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Thomas Piketty wurde mit seinem Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" weltbekannt. Der französische Oekonom schilderte darin fundiert und umfassend, wie sich die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart entwickelte und warnte angesichts der sich abermals über jedes Maß zuspitzenden nationalen wie globalen Ungleichheit vor neuen sozialen Krisen und Katastrophen im 21. Jahrhundert, wenn nicht politisch gegengesteuert wird.
War dieses erste große Buch ein mit einem deutlich wirtschaftswissenschaftlichen Schwerpunkt, mit vielen Zahlen und Statistiken argumentierendes Werk, so ist nun sein zweites ebenfalls dickes Buch, in der deutschen Übersetzung 1300 Seiten stark, stärker diskursgeschichtlich ausgerichtet. In "Kapital und Ideologie" will der Autor den ideologischen Unterbau von Ungleichheitsregimen in der Weltgeschichte herausarbeiten und zieht dabei nicht nur Zahlenmaterial heran, sondern wertet zahlreiche Quellen zu gesellschaftlichen Diskursen und politischen Entscheidungen aus.
Dabei geht er in vier großen Abschnitten grob chronologisch vor. Zunächst analysiert er im ersten Teil "mittelalterliche" Gesellschaften, die er trifunktional nennt, also in der Regel eine Krieger- und eine geistige Elite haben, die einem arbeitenden dritten Stand gegenüberstehen. Im zweiten Teil befasst er sich mit Kolonialgesellschaften und Sklaverei. Im dritten Abschnitt geht es dann um die Eigentümergesellschaften im 20. Jahrhundert und ihrer Krise, die dazu führte, dass sie durch progressive Steuersysteme und andere Maßnahmen die extreme Ungleichheit vor dem ersten Weltkrieg reduzierte, sie dann ab den 1980er Jahren aber wieder zuließ, was zur enormen sozialen Ungleichheit der Gegenwart führte. Im letzten Teil schlägt er schließlich diverse Maßnahmen vor, die auf globaler Ebene die Ungleichheit im 21. Jahrhundert reduzieren würden und die Menschheit vor einer Wiederholung der Geschichte des frühen 20. Jahrhundert bewahren könnten.
Piketty zweites Buch ist nicht weniger fundiert und faktengefüttert als sein erstes. Viele Tabellen und Grafiken ergänzen den Text, viele Quellen werden ausführlich dargelegt, auch immer mit Hinweisen zu den Grenzen ihrer Aussagekraft und Auswertbarkeit. Es gibt wohl wenige Autoren der Gegenwart, die stets so transparent und ausführlich immer dazu schreiben, wie gesichert oder ungesichert ihre Datenlage und damit auch ihre Aussagen sind. Dem ideologiegeschichtlichen Konzept dieses zweiten Buches ist es aber inhärent, dass es etwas spekulativer ist, da es viel um politische und gesellschaftliche Diskurse geht, die nicht in Zahlen auszudrücken sind. Es ist vielmehr ein klassisches geschichtswissenschaftliches Buch als es das erste war.
Das macht es spannend und zu einer guten Ergänzung des ersten Buches. Denn jetzt geht es um gesellschaftlich-politische Konflikte, deren Ausgang immer offen ist, eine Tatsache, die Piketty nicht müde wird zu betonen. Es geht ihm im Grunde auf 1300 Seiten darum, dass wirtschaftliche Entwicklung und Ungleichheit keine Naturgesetze sind, sondern immer Ergebnis politischen Handelns oder eben auch Nichthandelns. Eine Erkenntnis, die sich allgemein in der Welt der Wirtschaftswissenschaften durchsetzen sollte. Wie der gesellschaftliche Reichtum erwirtschaftet und verteilt wird, wird, so der Autor, von den herrschenden Ideologien in einer Gesellschaft bestimmt. Ob Adel und Klerus einen Zehnt vom Bauern eintreiben können, weil es die Gesellschaft als Bestandteil einer gottgegebenen Ordnung hält, oder ob riesige Milliardenvermögen nicht enteignet oder zumindest angemessen besteuert werden, weil Eigentum als heilig betrachtet wird, ist letztlich alles eine Frage herrschender Ideologie und damit politischer Mobilisierungskraft alternativer Konzepte.
Inhaltlich breitet er eine überzeugende wie streitbare Theorie auf 1300 Seiten aus. So führt er aus wie aus den trifunktionalen Gesellschaften, in und außerhalb Europas, proprietaristische, also Eigentümergesellschaften wurden, in denen Rechte auf Eigentum und hoheitliche Rechte strikt getrennt wurden und zweitere nur noch einem starken Zentralstaat zukamen. Da dies zwar zu allgemein rechtlicher Gleichheit führte, aber die soziale Ungleichheit sich im Laufe des 19. Jahrhunderts sogar erhöhte, kam es im Zuge der Weltkriege und Weltwirtschaftskrise zu den umverteilenden sozialdemokratischen Gesellschaften, die bis in die 1980er Jahre eine historisch betrachtet relative Gleichheit herstellen konnten, aber seitdem wieder in rascher Geschwindigkeit ungleich werden. Piketty beschreibt für fast alle Länder, die er analysiert, sehr ausführlich wie bei jedem dieser Übergänge ideologische, gesellschaftliche und politische Kämpfe stattgefunden haben und betont, dass es letztlich immer vom Kräfteverhältnis der gesellschaftlichen Gruppen und deren Mobilisierung ankommt, ob Regeln durchgesetzt werden, die zu Ungleichheit führen oder diese reduzieren.
Alles das ist ziemlich überzeugend, der Leser muss nicht jede These und jeden Vorschlag mitgehen, darum geht es Piketty auch gar nicht, sondern es geht darum zu zeigen, wie wichtig es ist, dass Ungleichheit nicht aus dem Ruder läuft und dass dies politisch steuerbar ist. Dieser Punkt kommt nochmal viel stärker rüber als im „Kapital des 21. Jahrhunderts“. Allerdings sind die beiden Bände auch nicht wenig redundant zueinander. Vieles wiederholt sich, nicht nur die Zahlen und Statistiken zur Entwicklung der Ungleichheit an sich, es kommen beispielsweise auch immer wieder dieselben Bezüge zu Jane Austen oder Balzac und deren Beschreibungen des Lebens ihrer Zeit. Piketty scheint einfach ein Verfechter des Grundsatzes zu sein, durch Wiederholung lernt es sich am besten. So finden sich viele redundante Stellen sowohl im Band selbst als auch zum ersten großen Buch.
Etwas weniger Redundanz hätte den langen Text schon etwas kürzer und leserfreundlicher gemacht, aber dennoch lohnt sich die Lektüre, da Ungleichheit wahrscheinlich nie umfassender und erhellender analysiert wurde, und so manche interessante Fakten und Gedanken lohnen auch einfach der mehrmaligen Lektüre.
Eine Leseprobe gibt es auf der
Verlagswebsite.