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 Wiener Arbeiten zur Literatur, Band 22: Frühere Verhältnisse

Geschichte und Geschichtsbewusstsein im Roman der Jahrtausendwende


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Geschichte lebt! Das Interesse an der Vergangenheit ist ungebrochen, die Möglichkeiten der medialen Vermittlung von Geschichte vielfältiger als je zuvor. Auch in der Literatur hat sich Geschichte als maßgeblicher Faktor im poetologischen Inventar etabliert, wie allein schon die Genrebezeichnung "historischer Roman" belegt. Doch verbindet man mit diesem weniger Werke aus der Feder eines Günter Grass oder Patrick Süskind als viel mehr die kaum noch überschaubare Flut an Unterhaltungs- und Trivialliteratur; es hat den Anschein, als wäre der historische Roman längst vom Thron der Literatur gestoßen worden und friste sein Dasein nun in "den Niederungen des Literaturbetriebs", wie Wendelin Schmidt-Dengler, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Wien und Herausgeber der Reihe "Wiener Arbeiten zur Literatur", die derzeitige literarische Situation paraphrasiert. Dass dieser Romantypus allerdings noch weit davon entfernt ist, sein eigenes Grab ausheben zu müssen, macht allein ein kurzer Blick auf den Buchmarkt klar. Und dass die Vermittlung von Geschichtsbildern im deutschsprachigen Roman unter dem Zeichen der Jahrtausendwende keineswegs nur in besagten "Niederungen des Literaturbetriebs" beheimatet ist, deckt Martin Neubauer in seiner Studie "Frühere Verhältnisse" - eine gekürzte Buchfassung seiner Habilitationsschrift - auf.

Nach einem einleitenden ersten Kapitel, in welchem der Leser über Zielsetzungen und Methoden der fast 300 Seiten umfassenden Studie informiert und mit dem Aufbau des Buches vertraut gemacht wird, geht Neubauer im zweiten Kapitel auf Geschichtsvermittlung und Geschichtsbewusstsein im historischen Roman der Postmoderne ein. Er stellt dem Leser den betreffenden Romantyp in all seinen poetologischen Facetten vor und geht auf Spezifika wie auch auf Konvergenzen der Gattung des historischen Romans zu anderen Genres ein - und dies in einer Symbiose aus Kürze und detaillierter Informationsvielfalt, welche für das gesamte Buch tonangebend ist. Hierbei beschränkt sich Neubauer keineswegs einfach nur darauf, die Erkenntnisse ausgewählter bestehender Studien zum Geschichtsroman wiederzugeben oder eine bloße Bestandsaufnahme der wichtigsten Sekundärliteratur zu diesem Thema zu führen; er greift - wie auch immer wieder im Verlauf von "Frühere Verhältnisse" festzustellen ist - auf die einzelnen Erkenntnisse früherer Studien zurück, stellt sie in einen Vergleich und prüft sie auf ihre "Praxistauglichkeit". Um den Leser auf die Situation von Geschichte in der Postmoderne und vor allem an der Schwelle der Jahrtausendwende zu sensibilisieren, setzt er den historischen Roman der Gegenwart in den Kontext der postmodernen Medienlandschaft: Werbung, populärwissenschaftliche und Fachzeitschriften, Film und Fernsehen, Brett- und Computerspiele, Jubiläen und Gründungsfeiern - der Autor lässt nichts aus, um das Interesse der Gegenwart an der Vergangenheit vor Augen zu führen. Damit gelingt dem Autor ein ebenso interessanter wie auch informativer Einstieg in die Thematik, welcher er sich in weiteren neun Abschnitten widmet.

Im dritten Kapitel geht der Autor auf die Stellung von Geschichte im biografischen Roman ein. Für seine vergleichende Interpretation wählt er aus dem breiten Spektrum historischer Persönlichkeiten den Staufer Friedrich II. sowie Johann Wolfgang von Goethe aus. Ersteren, da er für seine Zeit als durchaus progressiv und "modern" gesehen werden kann, letzteren vor allem, um die Bedeutung von Jubiläumsjahren für die Entstehung von Literatur zu analysieren. Die hierfür zur Untersuchung herangezogenen Primärtexte sind sowohl hochliterarischer wie auch belletristischer Natur und dienen der Herausfilterung gegenwärtiger Forschungsansichten und Expertenmeinungen im biografischen Roman.

Das vierte Kapitel widmet sich dem Thema Antike, wobei der Fokus der Interpretationen auf der Rolle des Mythos ruht und der Frage, wie dieser im historischen Roman mit überlieferten Ereignissen in einem chronologischen Gefüge verbunden wird. Da sich dieser Thematik vorrangig die Unterhaltungs- und Trivialliteratur angenommen hat, kommt diese bei den vergleichenden Interpretationen verstärkt zum Zuge: Neben Hanns Kneifels "Telegonos" und Gisbert Haefs’ "Troja" widmet sich Neubauer in einem eigenen Unterkapitel dem Phänomen Philipp Vandenberg als dem zweifelsohne bekanntesten wie auch erfolgreichsten deutschen Vertreter des historischen Romans. Dem fünften Kapitel liegt die Rezeption des Mittelalters im historischen Roman zugrunde, aufgrund der kaum überschaubaren Fülle an entsprechender (Unterhaltungs-)Literatur beschränkt Neubauer den Fokus der Untersuchung auf die Begegnung zwischen Orient und Okzident. Um eben dieses Grundkonzept - die Begegnung des Bekannten mit dem Fremdartigen - geht es auch im sechsten Kapitel, welches sich mit dem Subgenre des Hexenromans und seinen didaktischen Möglichkeiten beschäftigt. Auch hier kommen Beispiele aus Hochliteratur und Belletristik zum Einsatz.

Das siebte Kapitel steht unter dem Zeichen der Entdeckungen und Abenteuerreisen in vergangenen Zeiten und dem intertextuellen Spiel der jeweiligen Autoren, welche in ihren Romanen Bezüge zu anderen Vertretern wie Karl May herstellen. Anders als in den vorangegangenen Kapiteln schränkt Neubauer den Fokus der zu untersuchenden Werke auf hochliterarische Ableger von Christoph Ransmayr, Raoul Schrott und Michael Roes ein; die Unterhaltungsliteratur, welche gewiss ebenfalls interessante Werke für eine vergleichende Interpretation geliefert hätte, wird hier außer Acht gelassen. Mit kontrafaktischen, also "Was-wäre-wenn"-Szenarien und dem Profit, den Literatur und Geschichtswissenschaft daraus schlagen können, beschäftigt sich das achte Kapitel, erneut vorrangig mit Vertretern der Hochliteratur wie Dieter Kühn und Michael Kleeberg.

In Kapitel Neun widmet sich Neubauer einmal mehr der Frage, ob eine klare Abgrenzung des historischen Romans von anderen Genres in Zeiten postmodernen Schreibens überhaupt möglich ist, diesmal am Beispiel von Romanen, in welchen der Protagonist mit außergewöhnlicher Wahrnehmung ausgestattet ist und damit zum Außenseiter wird. Im Licht der Interpretation stehen Romane mit hypersensiblen Sonderlingen als Helden wie Patrick Süskinds "Das Parfüm", Lea Singers "Die Zunge" und Robert Schneiders "Schlafes Bruder". Das vorletzte Kapitel beschäftigt sich mit postmodernen Romanen über das 20. Jahrhundert und der Frage, wie in diesen mit Geschichtsbewusstsein, mit Erinnerung und dem Vergessen beziehungsweise Verdrängen umgegangen wird. Zur Analyse herangezogen werden unter anderem Werke von Robert Menasse, W.G. Seebald und Günter Grass. Im letzten Abschnitt lässt Neubauer seine Erkenntnisse Revue passieren und schafft einen Ausblick auf Fragen, denen er nicht nachgehen konnte.

Die Stärke der vorliegenden Studie liegt zweifelsohne im Unterfangen des Autors, sich nicht mit dem literarischen Kanon allein zufrieden zu geben und über den hochliterarischen Tellerrand hinauszublicken: Ausgehend von dem Standpunkt, dass sich Geschichtsbewusstsein unabhängig von literarischen Qualitätskriterien entwickelt, zieht Neubauer neben kanonisierten Texten auch triviale Ableger des historischen Romans zur komparatistischen Interpretation heran. Gerade aufgrund der Natur der trivialen Massenliteratur liefert diese einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Vermittlung von Geschichtsbildern, weshalb der Germanist ein Miteinbeziehen von Vandenberg & Co. als notwendig erachtet. Ebenfalls als Pluspunkt zu werten ist die Tatsache, dass trotz des Fokus auf der deutschen Literatur diese niemals von anderssprachigen Vertretern des historischen Romans isoliert betrachtet wird; Vergleiche und Verweise auf Umberto Eco, Noah Gordon und Dan Brown sind damit keine Seltenheit und zeigen gleichzeitig die Stellung der deutschsprachigen Romane im weltliterarischen Gesamtkonstrukt. Des Weiteren behandelt Neubauer die einzelnen thematischen Gebiete nicht völlig isoliert voneinander, sondern verweist - wo sinnvoll - auf Konvergenzen und Divergenzen, greift stets auf den erarbeiteten Stoff zurück und ruft dem Leser wichtige Details, wo es Not tut, ins Gedächtnis zurück.

Doch kein Werk kommt ohne negative Kritik davon, so auch "Frühere Verhältnisse", das sich in erster Linie an Literaturwissenschaftler richtet, nicht. Auch wenn der Ansatz Neubauers, die Unterhaltungsliteratur nicht draußen vor der Türe seiner Untersuchung warten zu lassen, mehr als nur löblich ist, so wirkt er angesichts der Übermacht hochliterarischer Texte in manchen Kapiteln an manchen Stellen etwas halbherzig. Neben der vollständigen Absenz trivialer Prosa im Abschnitt zu den Abenteuer- und Entdeckungsromanen hat auch das Ausklammern gewisser belletristischer Produkte im Kapitel zur kontrafaktischen Geschichte Neubauers Studie nicht unbedingt zum Vorteil gereicht. Zu bedauern ist auch die Tatsache, dass es das Kapitel zum Subgenre des historischen Kriminalromans - aus welchen Gründen auch immer - aus der Habilitationsschrift nicht in das Buch geschafft hat.

Nichtsdestotrotz stellt "Frühere Verhältnisse" eine ebenso informative wie ansprechende Studie zu einer nicht minder ansprechenden Gattung dar, die auch in puncto Layout und Lektorat zu überzeugen weiß; die an einer Hand abzählbare Zahl an orthografischen und Beistrichfehlern tut dem positiven Gesamteindruck, den Neubauers Buch präsentiert, wahrlich keinen Abbruch. Eine rundum gelungene Studie, welche der Wiener Germanist unter der Schirmherrschaft Wendelin Schmidt-Denglers vorlegt.

Michael Höfel



Taschenbuch | Erschienen: 01. Mai 2007 | ISBN: 9783700316121 | Preis: 26,90 Euro | 296 Seiten | Sprache: Deutsch

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