Ein polnisches Sprichwort lautet: "Neugier tötet die Katze". Autoren vermutlich auch. Zumindest Autoren wie mich.
Max Rohde, erfolgloser Schriftsteller aus Berlin, ist gerade mit dem Auto unterwegs, als ein Unbekannter ihn auf dem Handy anruft. Der Mann fordert ihn mit mühsam hervorgebrachten Worten auf, so schnell wie möglich ins Krankenhaus im Westend zu kommen, wo er auf der Intensivstation liege und nur noch wenige Minuten zu leben habe. Nach einem kurzen inneren Kampf siegt die Neugier und Max begibt sich zum Krankenhaus. Dort tut der geheimnisvolle Anrufer tatsächlich gerade seine letzten Atemzüge, nicht ohne dem geschockten Autor vorher noch seltsame Hinweise zu geben - "Joshua hat sie auserwählt" - und ihn eindringlich zu ermahnen, sich auf gar keinen Fall strafbar zu machen, wenn er nicht enden wolle wie er selbst.
Mit dieser bizarren Begegnung beginnt für Max Rohde, seine Frau Kim und seine Pflegetochter Jola ein furchtbarer Albtraum, der ihn auf einer halsbrecherischen Jagd durch halb Berlin führt. Der bis dahin unauffällige Familienvater muss nicht nur um sein eigenes Leben fürchten, sondern vor allem um das der zehnjährigen Jola. Irgendwo zieht jemand die Strippen in einem so bösartigen wie verwirrenden Spiel, und plötzlich ist Max auf der Flucht mit genau dem Mann an seiner Seite, den er am allerwenigsten sehen will: sein schwerkrimineller Bruder Cosmo, ein verurteilter Pädophiler, der bis vor kurzem noch in Sicherheitsverwahrung saß ...
Puh! Wer den neuesten Thriller von Sebastian Fitzek nach der letzten Seite (und dem wie immer sehr lesenswerten und ausführlichen Nachwort des Autors) zuklappt, muss erst einmal tief durchatmen. "Das Joshua-Profil" ist nicht nur verdammt spannend, sondern birgt Fitzek-typisch mal wieder ziemlich harten Stoff. Kindesmisshandlung und -missbrauch sind nur zwei der Themen, um die sich das Buch dreht und die dem Leser schwer im Magen liegen. Auch sonst geht es wieder ordentlich zur Sache: Wilde Verfolgungsjagden durch die Hauptstadt, globale Verschwörungen und ein Familienvater, der aus seinem beschaulichen Leben brutal herausgerissen wird und im Verlauf des Romans zum Draufgänger mutiert, machen aus dem "Joshua-Profil" abschnittsweise eher einen Actionreißer als einen Krimi. Das wird alle nerven, die es dezent, durchgängig realistisch und bis ins Detail hinein glaubwürdig mögen, aber all denen gefallen, die schnelle Unterhaltung, zahlreiche Wendungen und nervenzerreißende Spannung mögen.
Okay, Jola kauft man ihre zehn Jahre nicht immer ab, sie wirkt wesentlich älter und lebenserfahrener, und auch sonst sind die Charaktere nicht unbedingt wie aus dem Leben gegriffen, sondern ziemlich überzeichnet. Die Bösen wirken wie einer Gangster-Groteske von Eoin Colfer entsprungen und Max Rohde umgibt sich offenbar ungern mit normalen Leuten: Sein Bruder ist ein kinderschändender und dabei doch mitleiderregender Psychopath, seine Frau ist berechnend und unterkühlt, sein Anwalt ein verrücktes Genie, seine Pflegetochter hochbegabt. Hier wäre weniger vermutlich mehr gewesen. Aber das ändert nichts daran, dass sich das "Joshua-Profil" flüssig und bis zur letzen Seite unterhaltsam liest und außerdem mit einem aktuellen (wenn auch nicht ganz neuen) Thema überzeugt. Zum Entzücken der Berliner, die aus dem Südwesten der Stadt kommen, findet übrigens ein Teil des Finales im "Kreisel" statt, jenem lang verlassenen, potthässlichen Bürohauskomplex, der schräg gegenüber vom Rathaus Steglitz thront. Und: "Die Blutschule", den Roman, der am Anfang des Buches als Auszug und packender Einstieg abgedruckt ist, gibt es wirklich - hier schreibt Fitzek unter dem Pseudonym Max Rohde. Alles in allem ist "Das Joshua-Profil" zwar recht dick aufgetragen, aber so spannend und unterhaltsam, dass es schwierig ist, den Roman wieder aus der Hand zu legen. Menschen aus ihrem bis dato durchschnittlichen Leben zu reißen und sie in ein wahres Inferno zu schicken, ist einfach Sebastian Fitzeks Stärke und auch hier macht das Szenario wieder enorm viel Spaß!