Gesamt |
|
Anspruch | |
Aufmachung | |
Brutalität | |
Gefühl | |
Preis - Leistungs - Verhältnis | |
Spannung | |
England, 1718: Als die sechzehnjährige Eliza Tally von ihrem reichen Liebhaber schwanger wird, sieht ihre habgierige Mutter sich und ihre Tochter endlich am Ziel ihrer Pläne. Doch der rückgratlose junge Mann verleugnet Eliza und erklärt die Ehezeremonie, die nur mit einer einzigen Zeugin stattfand, für nichtig. Elizas Mutter schickt das unverheiratete junge Mädchen daraufhin weit fort, in die Metropole London.
Als Dienstmädchen des Apothekers Grayson Black, der sie trotz ihres skandalösen Zustandes aufnehmen will, soll sie zunächst ein Jahr von fern von Zuhause arbeiten - und natürlich hofft Eliza, mit der Hilfe des Apothekers das ungeliebte, noch ungeborene Kind loszuwerden. Doch es kommt anders.
In London angekommen, findet das Mädchen ein düsteres Haus vor, in dem der von einem Feuermal entstellte Apotheker als Exzentriker herrscht. Er ist besessen von einer neuen wissenschaftlichen Theorie, mit deren Veröffentlichung er endlich zu Ruhm und Ansehen in gehobenen Kreisen gelangen will. Gleichzeitig richtet sich Black durch seine Opiumsucht zugrunde. Eliza merkt erst spät, dass er sie und das Kind, das in ihr heranwächst, für seine Experimente missbraucht. Und nicht nur Eliza ist Teil seiner teuflischen Pläne, auch die geistig behinderte Mary, die ebenfalls in dem Haus als Dienstmädchen arbeitet, wird sein Opfer.
Mit ihrem ersten Roman "Der Vermesser" hat die Autorin Clare Clark bereits ein ausgesprochenes düsteres Bild von London früherer Zeiten - allerdings im Jahr 1855 - gezeichnet. Ihr neuer Roman, "Der Apotheker" ist vielleicht nicht ganz so spannend und virtuos durchdacht, aber ebenso beklemmend und abgründig. Wieder zeigt Clark, dass sie vor allem sprachlich ganz vorne in der Autorenliga mitspielen kann. Ihre Eloquenz lässt das London des Jahres 1718 dermaßen detailreich und sinnlich vor den Augen des Lesers auferstehen, dass man sich bisweilen angeekelt abwenden möchte. Allgegenwärtig ist der Gestank in den Straßen, Gassen, der Gestank der Menschen, der Betten, der Läden und Geschäfte. Allgegenwärtig sind Armut und Bosheit. Im Mittelpunkt dieser Erzählung steht aber vor allem das damalige Streben nach Wissen. Angestachelt von Durchbrüchen der Wissenschaft versuchte eine Vielzahl von Menschen, mit ihren eigenen Theorien von Medizin, Philosophie und Religion den Menschen zu erklären - bisweilen mit grauenhaften Folgen. Behinderte Menschen wurden als Monstrositäten ausgestellt, Kranke aus heutiger Sicht obskuren Therapien unterzogen, werdende Mütter Aber- und Irrglauben unterworfen.
Bisweilen zieht sich "Der Apotheker" ziemlich in die Länge, vor allem in der Mitte des Romans. Angestachelt durch die im Haus des Apothekers herrschende bedrückende Atmosphäre, die an "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" erinnert, erwartet der Leser endlich den großen Knall, die große Enthüllung - doch die kommt nicht, zumindest nicht wie erwartet. Zwar gibt es wieder einen fein gesponnenen und in sich schlüssigen Plot, der dem Leser Entsetzen, Empörung und Ekel entlockt, doch der Spannungsbogen wirkt nicht ganz ausgereift und liegt hin und wieder brach. Die Wende bringt am Ende eine Figur, die über einen Großteil des Romans nur kurz angerissen wurde, andere Handlungsstränge werden dagegen ein wenig zurückgestellt. Vor allem von dem diabolischen, dahinsiechenden Apotheker hätte man sich noch ein klein wenig mehr erwartet.
Fantastisch ist die Charakterisierung der jungen Eliza gelungen, die zuerst von Leidenschaft und Naivität getrieben wird, dann von Hass, Verzweiflung und Abscheu - vor allem gegenüber dem Kind, das in ihr heranwächst -, später von Entschlossenheit und Liebe. Die Erzählung aus der Sicht Elizas wird immer wieder unterbrochen von Briefwechseln, die der Apotheker mit Geschäftspartnern führt und aus denen sich nach und nach seine Pläne erahnen lassen, und Tagebucheinträgen des Apothekers, die seinen fortschreitenden Wahnsinn enthüllen.
"Der Apotheker" hat beinahe unbegrenzt viele Pluspunkte verdient für die atmosphärische Schilderung Londons zur damaligen Zeit, die einen bei der Lektüre kaum atmen lässt, so plastisch ist sie. Die Themen Fortschritt, Aberglauben, Medizin und Wissenschaft wurden grandios eingebunden und ergeben ein historisch schlüssiges, hoch interessantes Bild, das menschliche Abgründe aufzeigt.
Die Spannung wurde dabei aber bisweilen ein wenig vernachlässigt, so dass man ungeduldig auf ein Fortschreiten der Handlung wartet - und sich oft sehr in Geduld üben muss. Trotzdem - allein für ihre ausdrucksstarke, ungeheuer lebendige und beklemmende Sprache gebührt der Autorin großes Lob. Sie beschwört Horror herauf, ohne einen Horrorroman geschrieben zu haben.