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"Nach dem Krieg kann doch niemand wissen, ob ich Christ oder Jude bin", sagte Peter van Pels 1944 zu Anne Frank. "Jeder hat die Möglichkeit sich neu zu erfinden." Angenommen, der Junge, der sich gemeinsam mit Anne Frank zwei Jahre lang in einem Amsterdamer Hinterhaus versteckt hielt, hätte den Krieg überlebt, wie wäre sein Leben verlaufen? Diese Frage hat die New Yorker Journalistin Ellen Feldman jahrelang bewegt, bis sie den Roman "Der Junge, der Anne Frank liebte" schrieb und damit ihren Gedanken Ausdruck verlieh.
In Feldmans fiktiver Geschichte hat Peter van Pels überlebt, ist nach Amerika ausgewandert und hat dort ein neues Leben begonnen. Er ist mit einer netten Frau verheiratet, stolzer Vater und erfolgreicher Geschäftsmann. Die Familie ist glücklich, auch wenn sich Peter über seine Vergangenheit gegenüber seiner Familie nicht äußert, sogar seiner Frau seine wirkliche Identität nicht verrät und leugnet, dass er Jude ist. Peter will die Vergangenheit vergessen, nur in der Gegenwart, in der sicheren Heimat Amerika leben.
"Home. Das ist eines meiner englischen Lieblingswörter. Das runde, volle O, das angenehme M. Es ist ein solideres Wort als das glatte house, besser als das eindeutige safe, was ohnehin ein Märchen ist. Der einzige Safe, dem ich vertraue, ist der, den ich mit eigenen Händen hinter den Wäscheschrank eingebaut habe, als wir in das Haus einzogen. Home ist etwas anderes, ein Wort mit einer anderen Farbe."
Doch eines Tages zerbricht die heile Welt, als Peter auf dem Nachtisch seiner Frau das "Tagebuch der Anne Frank" findet und über Nacht seine Stimme verliert. Nachdem keine medizinische Diagnose festgestellt werden konnte, wendet sich Peter an einen Psychologen, der ihm unangenehme Fragen über sein früheres Leben stellt. Auch wenn sich Peter dem Arzt nicht öffnet, muss er sich doch seit diesem Tag mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen.
In kurzen, klaren Sätzen und mithilfe des inneren Monologs eröffnet sich dem Leser die Gedankenwelt Peters. Er spürt die Scham des Protagonisten, die dieser immer noch als Jude empfindet, die Schuldgefühle, dass er überlebt hat und seine Familie sterben musste, die Angst, auch in Amerika immer noch verfolgt zu werden und die Wut, als Peter sieht, dass sein Vater in einem Theaterstück und Film als Dieb dargestellt wird.
"Ich war den Erinnerungen, die das Tagebuch in mir wachrief, nicht gewachsen. Ich konnte der Anziehung all dieser Geister nicht widerstehen. Sie entstiegen den abgegriffenen, grobporigen Seiten, legten ihre Arme um meinen Hals und zogen mich keuchend und lachend und schluchzend zurück in ihr Leben, zurück in eine Zeit, in der sie noch am Leben waren."
In das Buch werden immer wieder Zitate aus "Anne Franks Tagebuch" in die Erzählung eingebettet, die Peter und damit auch den Leser berühren. Das Buch widmet sich einer Problematik, die selten angesprochen wird: Die Verarbeitung mit dem Geschehenen, das Weiterleben der Opfer nach dem Holocaust, gefangen in ihren Erinnerungen. Über die Schrecken der Nazizeit wurde viel geschrieben; über die Zeit danach, das Leben der Geretteten, wenig.
Auch der Umgang von Angehörigen mit den Holocaust-Überlebenden wird angesprochen, allerdings nur leicht gestreift. Peter van Pels spricht mit seiner Frau Madelaine nicht über seine Zeit in Amsterdam. Die geheime Vergangenheit steht immer zwischen beiden und führt zu Unverständnis innerhalb der Partnerschaft. Hier hätte den Leser die schwierige Lage der Ehefrau noch mehr interessiert.
Ellen Feldman hat mit "Der Junge, der Anne Frank liebte" eine fesselnde Geschichte erfunden, der ein Spagat zwischen Realität und Fiktion gelingt. Positiv zu bewerten sind auch die kritischen Stimmen, die Feldman in das Buch einbringt. Anne Franks Tagebuch wurde durch ihren Vater der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sie selbst dadurch als "Heilige" symbolisiert. Doch weitere Menschen in ihrem Buch, zum Beispiel Fritz Pfeffer oder Peters Vater, wurden im Rahmen der literarischen und filmischen Vermarktung als Idiot und Dieb dargestellt. Die Würde dieser Menschen wurde beschädigt.
Die meisten Historiker sind davon überzeugt, dass Peter van Pels am 5. Mai 1945, drei Tage vor der Befreiung des Lagers, in oder auf dem Weg nach Mauthausen im Alter von 18 Jahren verstarb. Ellen Feldman hat dem jungen Peter mit ihrem Roman ein Denkmal gesetzt.