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Als Balram Halwai erfährt, dass der chinesische Ministerpräsident in Kürze das indische Bangalore besuchen will, schreibt er ihm einen Brief. Es wird eine sieben Nächte andauernde Lebensbeichte in Briefform, die der Ministerpräsident Chinas natürlich nie erhalten wird.
Balram berichtet, wie er, der in seinem Heimatdorf "Der weiße Tiger" genannt wurde, aus einer armen und ungebildeten Familie aus der Kaste der Zuckerbäcker aufstieg zu einem erfolgreichen Geschäftsmann Indiens, zu einem wichtigen Mitglied der neuen indischen Gesellschaft.
Er erzählt, wie es kam, dass er heute in einem eigenen Büro mit einem Kronleuchter sitzt, wie es kam, dass er nun in Fünf-Sterne-Hotels verkehrt, die er früher nur neidisch von außen anstarren konnte, und wie es kam, dass er sich heute das beste Essen und die schönsten Frauen leisten kann.
Der Ausbruch aus seinem langjährigen Dienerdasein gelang dem jungen Inder nicht ohne Blutvergießen, und deshalb ist diese Geschichte nicht nur abenteuerlich und manchmal auch lustig, sondern vor allem düster und stellenweise beschämend und traurig. Balram erzählt nicht nur aus seinem Leben, sondern gibt gleichzeitig einen lebendigen und aufrüttelnden Abriss Indiens, wie es war und wie es heute ist.
"Der weiße Tiger" ist der Debütroman des indischen Autors Aravind Adiga; er wurde dafür mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Es ist die Geschichte eines Aufstiegs, einer Befreiung, aber sie hat fast nichts von der heiteren Erfolgsgeschichte eines ambitionierten Selfmade-Man. Balram erreicht die Freiheit nicht durch friedlichen Widerstand im Stile Mahatma Gandhis, sondern letztendlich nur durch Gewalt.
Viele Romane und Geschichten, die im postkolonialen Indien spielen, zeigen dem Leser, was er erwartet und was er hören möchte - die Exotik, die immer noch andauernde Magie dieses Landes, das den meisten Europäern so fremd ist. Gibt es keine Exotik oder wilden Tiere, so berichten die Geschichten von Indien als aufstrebender Industrienation, als Volk von Computergenies, die ihr Talent in die ganze Welt hinaustragen. Diesen Weg geht Aravind Adiga nicht. Er beschreibt das "neue Indien" des 21. Jahrhunderts, und dieses Indien ist nicht exotisch und prachtvoll, sondern vor allem korrupt und laut und dreckig. Adiga zeigt uns Slums und Familien, die am Existenzminimum vor sich hinvegetieren und für die sich seit hundert Jahren nichts geändert hat. Menschen, die an Krankheiten sterben, so wie Balrams Vater, der zeitlebens ein armer Rikschafahrer war, an Tuberkulose stirbt.
Vor allem aber zeigt Adiga uns - oder lässt vielmehr Balram in einer seltsamen Mischung aus Zynismus und Stolz berichten -, wie in Indien große Teile der Bevölkerung von wenigen Herrschenden unterdrückt werden.
Am schlimmsten ist für Balram die Erkenntnis, und das ist das Hauptmotiv des Romans, dass die Armen und Unterdrückten sich in Indien mit Freuden von den zahlenmäßig unterlegenen Reichen und Korrupten unterdrücken lassen. Die Diener bestehlen ihre reichen Arbeitgeber nicht, sondern dienen ihnen unterwürfig, weil es ihnen, so Balram, seit Generationen im Blut liegt. Sie begehren nicht auf, sondern tun alles, was von ihnen verlangt wird. Als Synonym für diese Unterdrückung steht bei Adiga das Bild eines Hühnerkäfigs, in den leidende Tiere eingepfercht sind, die aber dennoch niemals einen Ausbruchsversuch wagen, sondern im Gegenteil noch gegenseitig auf sich einhacken.
Für den Leser sind die Schilderungen aus Balrams Leben teilweise ziemlich schmerzhaft, denn der Ich-Erzähler muss einiges erdulden, was ihm seine moralisch verfallenen Arbeitgeber antun, teils aus Dummheit und Überheblichkeit, teils aus purer Bosheit. So berichtet er, wie er zum Fahrer eines reichen Großgrundbesitzers wird, ihm die Füße massieren muss, täglich die Hunde wäscht und bürstet und auf dem Boden des Wagens kriechend nach einer einzigen Rupie suchen muss, die sein Herr verloren hat.
Balram geht den Weg aus der Düsternis bis ins Licht, allerdings zu einem hohen Preis, und am Ende steht ein Mord. Balram durchschaut das System von Arm und Reich, von Unterdrückten und Unterdrückern, und befreit sich letztendlich selbst, nachdem er begriffen hat, dass sein Leben sich sonst nie ändern wird. Doch auch der befreite Balram kann dem geltenden System von Bestechung, Korruption und Macht nicht wirklich entgehen und wird damit am Ende zu einem Teil der Gesellschaft, der er früher diente. Einst war er arm und anständig, wie er in seinen Briefen versichert - am Ende ist er zwar reich, aber auch verändert.
"Der weiße Tiger" ist ein wichtiges und provokatives Buch. Beim Lesen vergisst man immer wieder, dass der Roman im 21. Jahrhundert spielt, so armselig und archaisch muten die Verhältnisse an, die der Autor uns hier so deutlich vor Augen führt. Dieser Roman mischt Abenteuer und skurrile Lebensbeichte mit Gesellschaftskritik und Sittenbild des heutigen Indiens, und das ganz ohne die naive Verklärung des Subkontinents, die man so häufig liest. Sehr empfehlenswert!