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Was täte man, wenn man der einzige und letzte Mensch auf dieser Welt wäre? Dieses Gedankenspiel hat wohl jeder schon einmal im Kopf vollzogen - was für Möglichkeiten böten sich in einer Welt ohne Regeln, ohne Verbote und ohne Rücksichtnahme! Und auf der anderen Seite: was für Schrecken, welche Einsamkeit. In "Die Arbeit der Nacht" beschreibt Thomas Glavinic eben dieses unbegreifliche Szenario, das den Protagonisten Jonas aus heiterem Himmel ereilt: Er steht morgens auf, ist irritiert, weil die morgendliche Zeitung fehlt. Die Zeichen, das etwas nicht stimmt, häufen sich rasch. Kein Fernsehen, kein Radioempfang, am Telefon nimmt niemand ab, der Internetbrowser spuckt nur Fehlermeldungen und leere Seiten aus. Auf den menschenleeren Straßen keine fahrenden Autos, keine Fußgänger, keine Stimmen, kein Lachen, kein Vogelzwitschern, überhaupt nichts: Stille. Alle Menschen, alle Tiere, sogar die Insekten sind verschwunden - es gibt keine Leichen, keine Zeichen von überhastetem Aufbruch, gar nichts.
Jonas wird nicht panisch, er geht planvoll vor. Besucht sein Büro (leer), die Wohnung seines Vaters (leer). Er holt Lebensmittel aus dem Supermarkt, zerschlägt systematisch Schaufenster in der Hoffnung, jemand könnte auf die heulenden Alarmanlagen reagieren. Er tauscht seinen alten Toyota im Autohaus gegen ein besseres Auto ein. Niemand hindert ihn, als er das Sicherheitsglas zerschmettert, indem er mit seinem Auto einfach hindurch fährt - es ist niemand da. Wo immer er sich aufhält, hinterlässt er Zettelbotschaften an Unbekannte mit der dringenden Bitte, ihn anzurufen. Die Vernunft in Jonas Kopf bröckelt langsam, aber heimtückisch, mit schleichenden Anzeichen. Die menschenleere, stille Welt wird zur Bedrohung. Jonas versucht nachzuvollziehen, was passiert sein könnte - eine Katastrophe, die alle Menschen zum Rückzug zwang - aber wohin? Ein Krieg, ein böser Traum, Außerirdische? Den letzten Gedanken verwirft er ebenso schnell, wie er kam, denn Jonas ist ein realistisch denkender Mensch. Schließlich kommt er auf die Idee, Videokameras an mehreren Plätzen der Stadt aufzustellen und nachts Tonbänder laufen zu lassen, um Spuren von Leben, falls es solche geben sollte, aufzunehmen. Auch sich selbst nimmt Jonas nachts auf Video auf. Beim Abhören eines Tonbandes hört er Rascheln und eine Stimme - doch ist es seine eigene Stimme, oder gibt es tatsächlich noch andere Menschen außer ihm?
Was bedeutet es ein Mensch zu sein in einer Welt ohne Menschen? Welche unserer Handlungen ergeben überhaupt noch einen Sinn, wenn wir niemanden mehr haben, der uns handeln sieht, niemanden, mit dem wir diese Handlung teilen können? Beklemmend und so plastisch, dass man meint, die Situationen selbst zu erleben, schildert der österreichische Autor dieses erschreckende Szenario. "Die Arbeit der Nacht" ist kein Science-Fiction- oder Fantasy-Roman, er ist durch und durch realitätsnah geschrieben - und wird dadurch umso bedrückender, umso packender für den Leser. In präzisen, eher nüchternen Sätzen beschreibt der Autor JonasÂ’ Situation, seine Gedanken, die alltäglichen Handlungen, die er mühsam aufrechterhält, obgleich sie teilweise keinen Sinn mehr ergeben.
Die Schauplätze der Handlung, die Jonas in der menschenleeren Stadt Wien besucht, erfüllen den Leser zunehmend mit Unbehagen; etwa wenn der Protagonist ganz allein auf den Rummelplatz geht, Autoscooter fährt, sich Würstchen brät, mit einer Pumpgun auf einen Schießstand feuert. Ausgezeichnet versteht es Thomas Glavinic, den Leser auf diese Weise zunehmend zu beunruhigen. Ein Ort, der in der Gruppe für Fröhlichkeit und Ausgelassenheit steht, erscheint grenzenlos trostlos und unheimlich, wenn man auf sich allein gestellt ist.
Man ertappt sich als Leser ständig bei dem Gedanken, was man selbst in einer solchen Situation täte. Und man wartet insgeheim, wartet darauf, dass Jonas kippt, dass er endlich durchdreht - was menschlich wäre. Doch den Gefallen tut er einem erstmal nicht: Die Romanfigur Jonas bewahrt in der entvölkerten Welt größtenteils einen kühlen Kopf; sie verfällt nicht in Panik, schreit nicht, tobt nicht, weint nicht. Jonas fährt beharrlich fort, nach Erklärungen zu suchen und Auswege zu finden, etwa indem er den weltweiten Funkverkehr auf der Suche nach einer menschlichen Stimme abhört. Gerade in Bezug auf die Technik besitzt der Roman ein paar unlogische Elemente - warum funktionieren zum Beispiel Telefone, Licht und Rolltreppen einwandfrei, warum aber das Internet nicht? Auch andere Logikfehler tauchen auf, die man entweder hassen kann oder die man einfach auf sich beruhen lässt. Mit Fortschreiten des Buches und dem Fortschreiten von Jonas Isolation zerfallen Logik und Vernunft nach und nach, was auch sprachlich sehr schön zu erkennen ist. Der Roman wird zunehmend beunruhigend, düster, fast surrealistisch, und hinterlässt zum Schluss beim Leser Unruhe, vielleicht auch Trauer.
Wer Dialoge und lebendige Beschreibungen von menschlichen Beziehungen in einem Roman sucht, wird hier enttäuscht werden - was natürlich in der Natur der Sache liegt. Die Ausgangskonstellation ist reizvoll, führt aber auch zu Schwächen des Buches, das immerhin 400 Seiten umfasst. Die gesamte Handlung ist auf einen einsamen, auf sich gestellten Menschen fokussiert. Weil Jonas allein ist, spricht er nicht oder kaum. Es gilt also, sich allein auf diesen einen Menschen zu konzentrieren. Das führt streckenweise zu Monotonie in den Beschreibungen, wenn nicht gar zu Langeweile ob der vielen Wiederholungen. Zwar finden Irritationen statt, unheimliche Ereignisse, von denen man zunächst nicht weiß, ob sie Zufall oder Einbildung sind, aber insgesamt passiert tatsächlich nicht besonders viel, es gibt auch keinen "großen Knall" in der Auflösung. Bei der Interpretation des Ganzen bleibt auch am Ende ein recht großer Spielraum - während viele Kritiker überzeugt sind, Glavinic würde ein reales Szenario beschreiben, glauben andere, dass sich alles nur in Jonas Gedankenwelt abspielt - etwa in einem Koma oder einem Traum.
Wen das alles von vorneherein langweilt, der sollte das Buch nicht lesen. Für alle anderen ist "Die Arbeit der Nacht" ein spannendes Experiment und ein beklemmendes Was-wäre-wenn. Es hätte dem Roman unter Umständen gut getan, wenn er etwas kürzer geworden wäre, aber auch so bietet er spannenden, düsteren und ungewöhnlichen Lesestoff.