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 Die Verflüchtigten

Autoren: Thomas Reverdy
Übersetzer: Brigitte Große
Verlag: Berlin Verlag

Cover
Gesamt ++++-
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung
Kazehiro, genannt Kaze, verschwindet bei Nacht und Nebel mit ein paar Habseligkeiten aus seiner Wohnung und seinem alten Leben. So wird er wie viele andere mit ähnlichem Schicksal ein johatsu, ein Verflüchtigter. Es gelingt ihm, im San'ya-Viertel Tokios, wo so viele Verfemte leben, ein kleines Entrümpelungsunternehmen zu starten. Sein Gehilfe Akainu, ein vierzehnjähriger Junge, der nach dem Tsunami bei Fukushima seine Eltern nicht mehr gefunden hat und aus der Region abgehauen ist, muss sich vor der Mafia, der Yakuza, verstecken. Er war Zeuge des Mordes an seinem zahlungsunwilligen Arbeitgeber geworden. Mittlerweile hat Kazes in San Francisco lebende Tochter vom Verschwinden ihres Vaters erfahren. Zusammen mit ihrem Ex-Freund Richard, seines Zeichens Privatdetektiv und Dichter, begibt sie sich auf die Suche nach ihm und begeht damit einen Regelbruch.

Aus der Anmerkung des Autors am Ende des Buchs geht hervor, dass die im Roman erzählte Geschichte im Grunde vollständig auf Tatsachen basiert. Kaze ist es ergangen wie zigtausend Leidensgenossen: Der bis dato angesehene Finanzexperte wurde aus ihm unerklärlichen Gründen von heute auf morgen gefeuert. Es bleibt ihm kein Ausweg, als sich zu verflüchtigen, wie das in Japan heißt: für immer abzutauchen in die Welt der Obdachlosen und schwarz arbeitenden Tagelöhner, die sich in einigen Vierteln Tokios angesiedelt haben. Dass Angehörige, in Kazes Fall seine Tochter Yukiko und ihr US-amerikanischer Freund Richard B., "Verflüchtigte" suchen, kommt allerdings üblicherweise nicht vor.

"Die Verflüchtigten" ist im Grunde das Gegenteil eines Roadmovies. Zwar sind sämtliche Protagonisten immer unterwegs, rastlos in Bewegung, doch sie suchen keine Freiheit - während Kaze und Akaino versuchen, ihr Selbst abzustreifen, insbesondere das vergangene, befinden sich Yukiko und Richard B. auf der Suche nach dem Selbst. Die einen wollen sich auflösen, die anderen materialisieren. Ob es ihnen letztlich gelingt, muss der Leser entscheiden, der sich von der düsteren Stimmung rasch einfangen und fesseln lässt. Helligkeit hat keinen Raum an den Orten, an denen die Protagonisten verkehren - eigentlich in ganz Japan nicht, das nach der Katastrophe von Fukushima in einer tiefen Krise steckt, so der Tenor des Buchs. Und somit bleiben die Charaktere ein Stück weit gestaltlose Schemen.

Reverdy, der sich zur entsprechenden Zeit in Japan aufhielt, arbeitet mit zahllosen Perspektivwechseln, die erstaunlicherweise nicht verwirren, mit einer schlichten Sprache, die sich der finsteren Atmosphäre anpasst, und mit Protagonisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten - Fremde in der Welt, in der sie sich nun aufhalten. Eindringlich beschreibt der Autor, auf Interviews basierend, das Leben der "Verflüchtigten" in Tokio und in der Region Fukushima, wo es reichlich Arbeit gibt - gerade für Entrümpler. Der Leser sieht die trostlose, verwüstete Landschaft vor sich, erlebt Tsunami und Reaktorunglück geradezu hautnah mit und wird hineingezogen in eine rätselhafte Welt, in der die Yakuza terrorisiert und mordet, aber auch organisiert und Struktur gibt sowie notwendige Abläufe in Gang setzt.

Es mag ein wenig irritieren, dass der Autor eine eigenwillige Mischung aus Krimi und Liebesroman verfasst hat, andererseits macht dieser bewusste Regelbruch jedoch sehr viel vom Reiz des Romans aus. Schließlich wird in beiden Genres gesucht - nach dem Gewinn der großen Liebe, nach Schuldigen oder, sehr selten wohl, "Verflüchtigten". Bei Reverdy wird auch gefunden: allerdings nicht unbedingt das ursprünglich Gesuchte. Denn seine Figuren machen eine rasante und fast verstörende Entwicklung durch.

Wer klassische, genregebundene Erzählkunst erwartet, liegt mit "Die Verflüchtigten eher falsch. Der Roman fordert den Mut zum Unkonventionellen ein und die Fähigkeit, sich auf extreme Stimmungen einzulassen. Leser, die beides besitzen, dürften in diesem Buch eine Lektüre finden, deren Wirkung lange anhält.

Eine Leseprobe bietet die Verlagsseite.

Regina Károlyi



Hardcover | Erschienen: 1. März 2016 | ISBN: 9783827012227 | Originaltitel: Les Evaporés | Preis: 22,00 Euro | 319 Seiten | Sprache: Deutsch

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