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Digitale Fotografie hat vieles ermöglicht, was noch vor 15 Jahren undenkbar gewesen wäre. Analog wählte jeder Fotograf - egal ob Profi oder Familienvater im Urlaub - sein Motiv mit Bedacht, der Film war nach 25 Fotos voll und erst Tage später erhielt er die Abzüge. Digitalkameras haben das schlagartig geändert: Egal ob Party, Urlaub, gemütlicher Grillabend mit Freunden oder der 90. Geburtstag der Oma, wirklich überall wird geknipst, was der Akku hergibt. Wer sich jedoch abseits von Schnappschüssen für Fotografie interessiert, der sollte nicht nur über Kameramodell und -objektive, sondern zeitgleich auch über vernünftige Lernlektüre nachdenken.
Christian Westphalen hat im renommierten Verlag
Galileo Press das Buch "Die große Fotoschule" herausgebracht, das auf der Rückseite als nichts weniger als "das neue Standardwerk für die Digitalfotografie" beworben wird. Auf circa 600 Seiten behandelt der Autor alles rund um die digitale Fotopraxis: Beginnend mit dem digitalen Bild und seiner Geschichte startet der Leser in das Abenteuer Digitalfotografie. Kamera- und Objektivbetrachtungen folgen in den nächsten Kapiteln. Jeweils eigene Abschnitte erhalten die Themen Schärfe, Licht, Belichtung, Blitzfotografie, Bildgestaltung, Farbe, Schwarzweiß und Motive. Informationen über die Bildbearbeitung am Computer schließen das Buch ab, danach folgt ein Glossar. Auf der DVD zum Buch findet der Leser Testversionen von Bildbearbeitungssoftware, Beispielbilder und jede Menge nützliche Dateien, die bei verschiedenen Thematiken zum Einsatz kommen.
Bei Lobeshymnen und Anpreisungen hat der Verlag bei diesem Buch ganz gewiss nicht gespart: Prangt auf dem Cover der Zusatz "Das umfassende Handbuch zur digitalen Fotografie", wird daraus auf dem Klappentext "Das neue Standardwerk für die Digitalfotografie!" und auch die Nominierung für den Deutschen Fotobuchpreis 2012 sticht ins Auge des Betrachters. Leider erhielt das Buch bei letzterem übrigens keine Auszeichnung. Doch so viel Lob weckt große Erwartungen, die Messlatte liegt extrem hoch - kann das Foto-Multitalent (Diplom-Fotodesigner, Fotograf und Fototrainer für digitale Bildbearbeitung sowie Autor mehrerer Fotobücher - hoffentlich findet er ein passendes Design für seine Visitenkarte!)
Christian Westphalen dem überhaupt noch gerecht werden?
Die Aufmachung entspricht dem klassischen und qualitativ hochwertigen Stil des Verlags: feine Gliederung, gute Lesbarkeit, schnelles Wiederfinden einzelner Kapitel beim Nachschlagen und viele Beispielbilder. Technisch einwandfrei! Von der Größe her eignet sich das Buch für den Schreibtisch, nicht aber für unterwegs - dafür ist es einfach zu groß und schwer -, aber auch das ist keine Kritik, denn viel Inhalt muss auch irgendwo untergebracht werden.
Inhaltlich glänzt der Autor mit Beschreibungen, die auf den Punkt gebracht sind - weite Ausschweifungen und Selbstdarstellungen sucht der Leser zum Glück vergebens. Die zu den einzelnen Punkten gegeben Beispiele sind passend und veranschaulichen den Text bestens. In der Gesamtbetrachtung ist der einzige Kritikpunkt, dass er bei den Kameras zwar unterschiedliche Typen inklusive Unterkategorien aufzählt, aber zu wenige Beispiele bringt, welche Kameras nun in welche Kategorie fallen. Eine Einordnung der gängigen Reihen von Canon, Nikon und Sony wäre hier keine große Arbeit gewesen und würde dem Laien durchaus helfen, die richtige Entscheidung in der Kamerawahl zu treffen. Bei der Fülle von wertvollen Informationen ist dies jedoch nur ein kleiner Kritikpunkt für eine bestimmte Zielgruppe an Lesern.
Damit aber zum großen Knackpunkt des Buches: Welche Zielgruppe möchten Autor und Verlag mit diesem Buch ansprechen? Weder auf dem Umschlag, noch auf der Verlagswebsite befindet sich ein Hinweis zum benötigten Wissensstand oder den Voraussetzungen, die der Leser mitbringen sollte. Das Wort "Fotoschule" vermittelt ebenso wie der Zusatz "Digitale Technik verständlich erklärt" den Eindruck, es sei für blutige Laien, die von der "Schnappschuss im Urlaub"-Fotografie zur Hobby-Fotografie wechseln möchten; "das umfassende Handbuch" und "das neue Standardwerk" deuten daraufhin, dass auch bereits erfahrenere Hobby-Fotografen und Profis sich das Buch einmal näher anschauen sollten. Aus dem Vorwort des Autors, indem von "allen wichtigen Grundlagen" die Rede ist, lässt sich die Zielgruppe auf blutige Laien bis fortgeschrittene, ambitionierte Hobby-Fotografen eingrenzen.
Doch wie eignet sich das Buch für diese Zielgruppe? Für ambitionierte Hobby-Fotografen mit einiger Erfahrung ist "Die große Fotoschule" ein gutes Nachschlagewerk, um Wissen aufzufrischen oder sich über bestimmte Themen der Fotografie näher zu informieren. Mit großer Sicherheit finden selbst Fortgeschrittene noch zahlreiche Tipps und Anregungen, die sie ohne großen Aufwand schnell in der Praxis umsetzen können.
Blutige Laien dagegen haben es nicht leicht mit dem Buch: Die Fotoschule erinnert in ihrem Aufbau an 20 Jahre alte Unterrichtsmethoden. Bevor auch nur ein Bruchteil in die Praxis umgesetzt wird, lernt der Schüler erst einmal die komplette Theorie kennen. Damit sind nicht die Fotogeschichte, die Wahl von Kamera und Objektiv gemeint - das wäre noch zu verkraften und ist schlichtweg notwendig. Nein, die Rede ist von all den Kapiteln über Schärfe, Licht, Belichtung und den Einsatz des Blitzes. Hat der Leser sich durch eine gute Beratung eine für ihn geeignete Spiegelreflexkamera gekauft, die Bedienungsanleitung durchgearbeitet und möchte nun mit Hilfe der Fotoschule das Fotografieren beginnen, so ist der Frust extrem groß.
Voran steht erst einmal massig Theorie; Theorie, die zwar durchaus wichtig wird in der Fotografie, dem blutigen Laien jedoch mit all den Querverweisen und als bekannt vorausgesetzten Redewendungen aus dem Fotografen-Jargon erstmal absolut unverständlich ist. Merken wird er es sich sowieso nicht können, das kommt erst im Laufe der Praxis! Nach dem Motto "Aus Fehlern wird man klug!" (ein Motto, das im Übrigen auch der Autor immer wieder betont), müsste das vorletzte Kapitel über Motive und die unterschiedlichen Arten der Fotografie direkt nach der Einführung und den Kapiteln über Kamera und Objektive zu finden sein - gefolgt von dem Abschnitt über die Bildgestaltung. Danach könnte der Leser auch viel besser die ganzen ins Detail gehenden Beschreibungen über einzelne Themen der Fotografie nachvollziehen und damit arbeiten. Eine Erwartung, die auch der Untertitel "Digitale Fotopraxis" schürt.
Ach übrigens: Für nicht mehr ganz blutige Laien selbstverständlich, jedoch auch nirgends zu finden, ist der Hinweis, dass hier größtenteils mit digitalen Spiegelreflexkameras gearbeitet wird. Für Fotoprofis interessant dagegen ist, dass es in diesem Buch wirklich um die Grundlagen geht und nur wenig Ausschweifungen in höhere Preisklassen, exotischere Einstellungen oder Aufnahmen zu finden sind.
Fazit: Viel Kritik und eigentlich doch ein geniales Buch - wunderbar für mehr oder weniger erfahrene Hobby-Fotografen, die bereits einen guten Schritt weg von der "Schnappschuss im Urlaub"-Fotografie sind. Blutige Laien dagegen müssen viel Geduld mitbringen und das Buch mindestens zweimal komplett lesen, bevor sie auch nur im Ansatz die Hälfte der Themen verstanden haben. Profis können es als Basiswerk im Regal verwenden, werden es jedoch eher selten nutzen. Die Beschreibungen sind sehr gut, die Beispiele hervorragend getroffen, dem Autor kann man hier keineswegs etwas vorwerfen. Das absolute Fehlen einer Zielgruppen-Definition und die übertriebenen Marketingaussagen erzeugen jedoch ein völlig verzerrtes Bild des Titels. Sehr schade, denn inhaltlich ist es absolut überzeugend.
Eine Leseprobe befindet sich auf der Verlags-Website.