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Der GAU von Tschernobyl war eine, vielleicht die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Wahrscheinlich leiden bis heute Millionen Menschen weltweit an den Folgen. Das Gebiet selbst ist auf unabsehbare Zeit verstrahlt. In einem Umkreis von 20 Kilometern darf sich niemand ohne Genehmigung dem Reaktor nähern.
Der Franzose Emmanuel Lepage hat es mit einer Künstlergruppe dennoch gewagt das Gebiet zu erkunden. Aus seinen Eindrücken und Erlebnissen während eines zweiwöchigen Besuches hat er den 150-seitigen Comic "Ein Frühling in Tschernobyl" gemacht. Er erzählt die Geschichte von der Planung und des Beschlusses des Projektes über die Hinreise bis hin zu den Bekanntschaften, die er vor Ort schließt, und die Erkundungen innerhalb der "Zone", des Gebietes um den Reaktor.
Dabei werden nicht nur Ruinen gezeigt, Lepage trifft dort auf lebensfrohe Menschen und lebendige Natur. Der Band zeichnet nach, wie der Künstler versucht den Schrecken der Katastrophe einzufangen, obwohl er nicht zu sehen, sondern nur mittels Geigerzählern zu messen ist ...
Emmanuel Lepages "Ein Frühling in Tschernobyl" ist ein fantastisches Comicbuch, das nicht nur einen Eindruck in das gegenwärtige Leben dort liefert, nicht nur viele surreale Bilder verfallener Ruinen und technischer Meisterleistungen bietet, sondern eine beeindruckende Suche nach der Visualisierung des Schreckens des atomaren GAUs darstellt. Gefunden wurde auf dieser Suche etwas ganz anderes.
Der Band arbeitet meistens mit stark entsättigten, oftmals sogar schwarz-weißen Zeichnungen. Die Katastrophe soll anfangs in tristen Bildern eingefangen werden. Auf ihren Erkundungen finden die Künstler verlassene Städte, verfallene Konstruktionen wie ein Riesenrad oder eine riesige Radaranlage, die nie gebraucht wurde. Verstrahlte LKWs oder Hubschrauber, die nach ihrem Rettungseinsatz auf dem Gelände bleiben mussten, verrosten. Doch gleichzeitig erobert sich die Natur das Gelände zurück, Wölfe haben sich wieder dort angesiedelt. Die Menschen, die außerhalb der Zone leben, sind lebensfroh und feiern mit ihren Gästen. Wo ist der Schrecken?
So tauchen immer wieder farbige Bilder auf, weil der Ort gar keinen tristen Eindruck macht. Er ist schön und das zu akzeptieren fällt schwer. Den Schrecken zu finden, ist visuell kaum zu bewerkstelligen. Die Ruinen faszinieren eher. Also versucht Lepage es mit abstrakteren und farbigen Experimenten. Doch am Ende überzeugt nur das Ticken des Geigerzählers als einzige Wahrnehmung der Gefahr, die von diesem Ort ausgeht.
Das Comicbuch zeigt, dass diese Gefahr auch deshalb so erträglich ist (gerade in Frankreich mit seinen vielen AKWs), weil die gefährliche Strahlung unsichtbar ist. Selbst in wenigen Kilometern Entfernung eines geschmolzenen Reaktors können Menschen leben und feiern, deren Angehörige an den Folgen der Katastrophe starben.
Emmanuel Lepage ist ein großartiger Comic gelungen, dessen Handlung und Bildsprache perfekt aufeinander abgestimmt sind. Inhaltlich und künstlerisch vermag er zu überzeugen. Er nähert sich einem zeithistorischen und politisch aktuellen Thema mit einem hohen künstlerischen Anspruch!
Eine Leseprobe gibt es auf der Verlagswebsite.