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"Frau Jenny Treibel" gehört zur angestammten Schullektüre, portraitiert der Roman doch die bürgerliche Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Deutschland, mit dem Augenmerk insbesondere auf der Kluft zwischen Besitz- und Bildungsbürgertum.
Corinna Schmidt, Tochter des Gymnasiallehrers Wilibald Schmidt, sieht apart aus und ist vor allem mit Intelligenz und Witz gesegnet. Diese Eigenschaften entgehen den jungen Männern in ihrer Umgebung nicht. An ihren Cousin und Verehrer Marcell Wedderkopp verschwendet sie ihre Gaben allerdings nicht – was kann aus ihm werden außer einem Privatlehrer und vielleicht Professor? Corinna hat die bescheidenen Verhältnisse im Hause ihres soliden Vaters satt, sie möchte mehr. Deshalb umgarnt sie Leopold Treibel, den Sohn der Jugendliebe ihres Vaters, Jenny Treibel, geborene Bürstenbinder, die damals dem ihren braunen Locken erlegenen Fabrikbesitzer Treibel den Vorzug gab.
Der weiche, leicht beeinflussbare Leopold verlobt sich mit ihr, erweist sich jedoch als machtlos seiner dominierenden Mutter gegenüber, für die diese Verlobung eine wahre Katastrophe bedeutet. Ungeachtet ihrer eigenen Herkunft erwartet sie von Leopold eine aus materieller Sicht attraktive Verbindung, zum Beispiel zur Schwägerin seines Bruders – auch wenn sie ihre Schwiegertochter im Grunde leidenschaftlich hasst.
Corinna ist nicht so oberflächlich, dass sie nicht verstünde, welche Vorzüge Marcell gegenüber Leopold hat. Es gelingt ihr, sich aus der unglücklichen Affäre herauszuwinden, und so nimmt alles ein scheinbar gutes Ende.
Ja, letztlich scheint das Ende des Romans gut, aber es zeigt auch auf, welche Abgründe sich hinter der heilen Fassade einer ordentlichen bürgerlichen Ehe auftun können. Etliche Seiten zuvor wurde der Leser Zeuge eines Streites zwischen dem anderen Treibel-Sohn, Otto, und seiner dominanten Hamburger Ehefrau Helene. Mit Glück hat das nicht viel zu tun. Es geht lediglich darum, den Besitz zusammenzuhalten und möglichst zu mehren, auch wenn hierzu hinterhältige Manöver nötig werden.
Der zweite Bruder, Leopold, erscheint erst recht als armseliger Pantoffelheld. Setzt Otto seine Frau zu, so ist es bei Leopold die allmächtige Mutter. Eigentlich möchte diese keine zweite Hamburgerin in der Familie, doch diese Option erscheint ihr immer noch besser als eine Professorentochter Corinna Schmidt.
Ohne zu diskriminieren zeigt Fontane die Kluft zwischen Bildungs- und Besitzbürgertum auf. Die Frauen agieren interessanterweise in der ersten Reihe, während die Männer eher abwartend in einer Warteposition verharren. Corinnas Einsicht führt zum Wendepunkt und ermöglicht eine friedliche Lösung des Konflikts.
Fontane hat die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit aufmerksam beobachtet und in "Frau Jenny Treibel" ein Abbild der damaligen Verhältnisse erstellt, das womöglich – die Bewertung sei dem Leser überlassen – nicht so viel an Aktualität eingebüßt hat, wie man annehmen würde.
Liegt das Abitur bereits einige Jahre zurück, so lohnt sich die Lektüre nicht minder. Fontanes Klassiker fesselt, nicht zuletzt wegen der aufmerksam beobachteten Charaktere, der feinen Ironie und des enormen Wissens des Autors in Bezug auf diverse wissenschaftliche Disziplinen.
Die neue Ausgabe von Suhrkamp punktet mit Begriffserklärungen in der Randspalte (etwa eingestreuten französischen und lateinischen Begriffen, die meist in snobistischer Weise angewendet werden) und einem ausführlichen Anhang, in dem man nicht zuletzt interessante Wort- und Sacherläuterungen findet. Erwähnt sei auch der lesenswerte Kommentar von Helmut Nobis. Auf diese Weise erschließt sich Fontanes Welt dem Leser rasch und unmittelbar.
Ein bedeutendes Werk der Weltliteratur in einer komfortablen und nützlichen Edition!