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Während einer Bootspartie lernt die Berliner Schneidergehilfin Lene Nimptsch den Baron Botho von Rienäcker kennen, einen jungen Adligen, der recht munter in den Tag hinein lebt. Die beiden verlieben sich ineinander; Lene bleibt allerdings realistisch - sie weiß, dass die Beziehung aufgrund des Standesunterschiedes niemals öffentlich werden darf. Botho indes genießt Lenes natürliche Art und ihr kluges, dabei anpackendes Wesen ebenso wie die Wärme in Lenes bescheidenem Heim mit deren Ziehmutter und der verschrobenen Nachbarin, Frau Dörr.
Auf einem Ausflug begegnet das Paar Bothos Freunden und deren Mätressen. Lene wird hierbei noch mehr bewusst, dass ihre Liebe nicht mehr lange währen wird. Und in der Tat verlässt Bodo sie bald darauf, wenn auch schweren Herzens: Seine Familie nötigt ihn, seine reiche Cousine Käthe zu heiraten, da er und seine Mutter nach dem Tod des Vaters das Rienäckersche Vermögen aufgebraucht haben.
Botho fügt sich und führt eine mäßig glückliche Ehe mit seiner oberflächlichen Frau. Lene sieht die beiden eines Tages auf der Straße und zieht in ein anderes Viertel, wo sie einen Fabrikmeister, Gideon Franke, kennen lernt, mit dem sie ebenfalls eine Vernunftehe eingeht, nicht ohne ihm vorher die Liebschaft mit Botho zu beichten. Der Bräutigam sucht Botho auf und lässt sich Lenes Geschichte bestätigen. Und beim Studium der Heiratsannonce muss sich Botho eingestehen: "Gideon ist besser als Botho."
Als Theodor Fontane "Irrungen, Wirrungen" 1888 verfasste, war das Thema einer Standesschranken sprengenden Liebe beileibe nicht neu. Der Roman um die einfache Schneidermamsell Lene und den jungen Adligen Botho, die sich ineinander verlieben und dann doch den gesellschaftlichen Konventionen gehorchen und beide in ihrem jeweiligen Stand heiraten, hätte einfach ein weiteres Werk nach dem üblichen Schema werden können. Doch "Irrungen, Wirrungen" sticht dadurch hervor, dass Lene von Anfang an weitsichtig und klug auftritt – wesentlich mehr als ihr Botho und vor allem als die adlige Frau, die Bodo aufgrund des familiären Druckes heiratet. Und Lene wird im Anschluss ebenso wenig wie seinerzeit die Nachbarin Dörr, der Ähnliches widerfahren ist, zum klassischen gefallenen Mädchen. Sie lebt ihr Leben bei aller Traurigkeit unerschrocken weiter, und als grundehrlicher Mensch klärt sie den Mann, der sie schließlich heiraten will, über die dreimonatige Beziehung zu Botho auf. Botho wiederum begreift, dass dieses ihm standesmäßig so weit unterlegene Paar mehr Format hat als er und seine oberflächliche Käthe. Ein enormer Affront des Autors gegenüber den herrschenden Verhältnissen in seiner Zeit, eine Gesellschaftskritik, die, wie sich zeitgenössischen Quellen entnehmen lässt, krachend einschlug.
So bietet "Irrungen, Wirrungen" einen interessanten und berührenden Einblick in die noch stark ständisch geprägte Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus sensibilisiert der Roman jedoch auch den heutigen Hörer oder Leser für etablierte Vorurteile, für Stereotype aller Art, und zeigt auf, wie absurd und menschenverachtend Konventionen sein können. Es bleibt noch viel weiterer Interpretationsspielraum, allein, hierzu gibt es reichlich Literatur und Webseiten.
Ausdrücklich empfohlen sei die vorliegende Hörbuchausgabe zum Fontane-Jahr 2019, bestehend aus einer mp3-CD mit einer ungekürzten Lesung von Gert Westphal. Dem Sprecher gelingt es, diese nur scheinbar altmodische Erzählung sehr kurzweilig zu gestalten, er macht die einzelnen Charaktere, die ja durchaus "Typen" sind, lebendig, etwa, indem er ihnen in der direkten Rede einen passenden Tonfall und gegebenenfalls eine leichte mundartliche Färbung verleiht. So befindet sich der Hörer gewissermaßen immer mitten im Roman.
Ein wichtiger Klassiker in einer großartigen Hörbuch-Edition!
Reinhören ist auf der Verlagsseite möglich.