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Der Roman beginnt, als illustriere er eine nächtliche Fotografie von Brassaï. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Autor die Bilder des Fotografen gekannt hat. Beide wurden um die Wende vom 19 zum 20. Jahrhundert geboren. Den Ungarn Brassaï und den Russen Gasdanow verschlug es 1923 beziehungsweise 1924 nach Paris. Dort beschrieben beide in ihrem künstlerischen Schaffen Paris, seine Bewohner und die damalige französische Gesellschaft.
Für den hier vorliegenden Roman konnte Gasdanow aus dem Fundus seiner Erfahrungen als Taxifahrer im nächtlichen Paris der 1930er-Jahre schöpfen. Der Icherzähler in "Nächtliche Wege" erscheint fast schon wie ein Alter Ego des Autors, der selber im Paris der 1930er-Jahre seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer verdiente und vor allem nachts und in den frühen Morgenstunden unterwegs war. Gasdanow nimmt die Leser mit in diese Welt, die inzwischen teilweise versunken ist. In das alte Hallenviertel, wo in der legendären Architektur von Baltard die Pariser mit Lebensmitteln versorgt wurden. Dem "Bauch von Paris" setzte bereits Emile Zola Ende des 19. Jahrhunderts ein literarisches Denkmal. Der nächtliche Taxifahrer Gasdanows erzählt von Fahrten mit Gästen aus den schönen Vierteln der Stadt, die genauso um den Preis feilschten wie die weniger Betuchten.
Die Zeit von zwei Uhr morgens bis um halb sechs, wenn der erste Vorortzug die Menschen aus den Vorstädten zur Arbeit in die Metropole spült, verbringt er in einem kleinen Café, das offenbar die ganze Nacht geöffnet hat. Dort trifft er auf die Prostituierten der Gegend und ihre Freier. Die alte Dame, die von allen nur „Keinstück“ genannt wird, weil die einzigen Worte, die sie spricht „kein Stück“ sind, geht hier ein und aus. Ebenso Mr. Martini, der immer Lokalrunden ausgibt, bis er kein Geld mehr hat und dann um ein letztes Glas bettelt. Unter all diesen Alkoholikern, Emigranten, Verzweifelten und Verrückten aller Schattierungen ist der nächtliche Fahrer zugleich Beobachter und Teil dieser bizarren Gemeinschaft.
Gasdanow hatte es in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu einiger Resonanz gebracht, auch außerhalb der russischen Exilgemeinde. In Deutschland war er lange nur Eingeweihten bekannt. Dies änderte sich, als 2012 bei Hanser „Das Phantom des Alexander Wolf“ auf Deutsch erschien. Zwei Jahre später folgte ebenfalls bei Hanser „Ein Abend bei Claire“, in der ein junger Exil-Russe um die Liebe einer kapriziösen Pariserin buhlt. 2018 wurde dann das hier besprochene Buch veröffentlicht. Zunächst als gebundene Ausgabe bei Hanser, seit Juli 2020 als Taschenbuch bei dtv. Während die Handlung bei „Alexander Wolf“ und bei „Claire“ über Strecken fantastisch, surreal oder wie aus einem Traum anmutet, sind die nächtlichen Wege in einem fast schon sachlichen, gewissermaßen reportagehaften Stil geschrieben.
Beim Lesen kann der Gedanke aufkommen, bei "Nächtliche Wege" handele es sich um eine literarische frühe französische Version des Films „Night on Earth“ von Jim Jarmusch.
Dem Nachwort von Christiane Körner lässt sich entnehmen, dass einige der Protagonisten des Romans reale Vorbilder haben, wie eine berühmte Prostituierte und ein gebildeter und philosophierender Clochard. Zudem erweist sich der Autor als präziser Beobachter der Pariser Bevölkerung und der Gesellschaft in der Vierten Republik während der 1930er-Jahre. Ein lesenswertes Buch für alle, die Paris lieben und seine Geschichten, die seit Jahrhunderten die begabtesten Vertreter der schreibenden Zunft inspirieren.
EineLeseprobe wird auf der Verlagsseite von Hanser angeboten.