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Die Phantastik – die Geschichte vom stiefmütterlich behandelten Forschungskind, das zum Liebling der Kulturwissenschaften aufstieg. Lange Zeit als trivial, und damit jedweder wissenschaftlichen Beachtung als unwürdig verschrien, hat sie sich im ausgehenden 20. Jahrhundert zunehmend als bedeutender und kontrovers diskutierter Forschungsgegenstand nicht zuletzt in den Philologien etabliert. Die Versuche der (vornehmlich literar-) historischen Rekonstruktionen des Phantastischen sind mittlerweile ebenso zahlreich wie die Bemühungen um seine theoretische Beschreibung; zu den Namen bedeutender literarischer Phantasten, mit denen der an der Materie Interessierte konfrontiert wird – von Poe bis Hoffmann, von Lovecraft bis Meyrink –, gesellen sich inzwischen zusätzlich die Namen jener Theoretiker – Caillois, Vax, Todorov und viele mehr –, die den Phantastikdiskurs nach wie vor lebendig halten. Will man den Versuch unternehmen, sich einen Überblick über das Phantastische und seine wissenschaftlichen Definitionsunternehmungen zu verschaffen, droht man angesichts der Ausmaße dieses Forschungsfeldes jedoch schnell jeden Mut zu verlieren. Was gerade auf dem deutschsprachigen Fachbuchmarkt lange Zeit fehlte, war ein ausgezeichnet recherchiertes und zusammengestelltes Nachschlagewerk als kompetenter Führer durch diese komplexe Materie.
Diese Lücke hat der Metzler-Verlag nun geschlossen – und zwar mit einem knapp 650-seitigen Handbuch, das der pluralen Medialität der Erscheinungsformen des Phantastischen entsprechend interdisziplinär angelegt ist und mehrere namhafte Koryphäen der Phantastikforschung zu seinen Beiträgern zählt – neben den beiden Herausgebern Hans Richard Brittnacher (FU Berlin) und Markus May (LMU München) finden sich beim Durchblättern auch Namen wie Marco Frenschkowski (Universität Leipzig), Clemens Ruthner (Trinity College Dublin), Marcus Stiglegger (Universität Siegen) oder Roland Innerhofer (Universität Wien).
Die Struktur des Handbuches ist klug durchdacht und klar strukturiert: Nach einleitenden Worten der Herausgeber übernimmt ein historischer Teil die Aufgabe, die Entwicklung des Phantastischen in den Literaturen und Traditionen verschiedener Sprachen von der Antike bis ins junge 21. Jahrhundert darzustellen. Dabei beschränkt sich das vorliegende Nachschlagewerk nicht allein auf die traditionell untersuchten Sprachräume des Englischen, Französischen und Deutschen, sondern rückt auch die iberischen, skandinavischen und slawischen Traditionen in den Blickpunkt. Der darauf folgende systematische Teil – vom Umfang her der Mammutbrocken des Handbuches – liefert einen Überblick über die Vielfalt theoretischer Konzeptionen und medialer Ausprägungen des Phantastischen, wobei neben der "traditionellen" medialen Manifestation (Erwachsenen-)Literatur auch die Bildende Kunst, die Architektur, Musik, Film, Kinder- und Jugendliteratur sowie Ausformungen moderner "phantastischer Alltagskultur" (Rollen- und Videospiele, Internet, Fandom, Design und Mode) Behandlung finden. Es folgt ein enzyklopädischer Teil, der sich in 45 Artikeln phantastischen Genres (Fantasy, Science Fiction, Schauerroman etc.), phantastiktypischen Themen und Motiven (Geister, Vampir, künstlicher Mensch etc.) sowie poetologischen Schlüsselkonzepten des Phantastischen (Horror, Manierismus etc.) annimmt. Abgerundet wird der Band durch eine Auswahlbibliografie sowie ein umfangreiches Personen-, Sach- und Figurenregister.
Das Unterfangen hinter diesem Handbuch, einerseits den aktuellen Forschungsstand zu diesem vielschichtigen Gegenstand abzubilden und gleichzeitig der Komplexität der Phantastik gerecht zu werden, ohne Abstriche in der Tauglichkeit des Bandes als wissenschaftliches Nachschlagewerk hinzunehmen, kann als geglückt angesehen werden. Dafür sorgt das hohe qualitative Niveau der einzelnen Beiträge ebenso wie die kluge Struktur des Werkes. Die Informationen sind allgemein gut aufbereitet und halten die Balance zwischen Informationsreichtum und Übersichtlichkeit. Querverweise vernetzen die einzelnen Beiträge sinnvoll, sodass der Leser über das bloße Nachschlagen eines einzelnen bestimmten Themas hinaus zum Schmökern eingeladen wird. Der erweiterte Blick im historischen Teil holt, wie bereits erwähnt, erfreulicherweise neben der englischen, französischen und deutschen auch weitere europäische Traditionen ins Blickfeld, womit sich der Band freilich selbst einen größeren Kreis potenzieller Nutzer eröffnet und so beispielsweise auch für Skandinavisten attraktiv wird. Auch wird der interessierte Leser bibliografisch gleich doppelt beglückt: Zum einen findet sich am Ende eines jeden Artikels weiterführende Literatur zum jeweiligen Thema, zum anderen schließt der Band mit einer bereits erwähnten Auswahlbibliografie zum Phantastischen ab. Damit erfüllt das Handbuch seinen – angesichts des behandelten Gegenstandes alles andere als niedrig angesetzten – Anspruch, seinem Nutzer fundiertes wie anwendbares Wissen zu offerieren und eine brauchbare Basis für weitere Recherchen zu bilden. Das Handbuch "Phantastik" wird der Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit des Phantastischen vollauf gerecht.
Damit einher geht freilich ein bestimmter Aspekt, der nicht unerwähnt bleiben sollte: Das vorliegende Handbuch – und hier ganz besonders Brittnachers Beitrag über die unterschiedlichen Phantastik-Theorien – legt die Vielfalt an methodischen Konzeptionalisierungen des Phantastischen offen; es liefert keine eigene Theorie der Phantastik ab – was es, wie betont werden muss, auch gar nicht will. Ein solches Unterfangen wäre schon allein angesichts des erweiterten Fokus bei den medialen Ausprägungen des Phantastischen zum Scheitern verurteilt gewesen. Der vorliegende Band will keine allein gültige phantastiktheoretische "Weltformel" abliefern, sondern den betreffenden Forschungsgegenstand samt aktuellem Forschungsstand und Problematiken abbilden. Und das ist den Herausgebern und Beiträgern zweifelsfrei gelungen.
Gänzlich ohne Kritik kommt zumindest die Auswahlbibliografie am Ende des Bandes aber nicht aus: So sind zwar viele bekannte theoretische Texte und Standardwerke zum Phantastischen aufgelistet – die Studien von Louis Vax und Roger Caillois, die strukturalistischen Arbeiten von Tzvetan Todorov und Uwe Durst, die im Corian-Verlag herausgegebenen Loseblattsammlungen zur phantastischen Literatur usw. –, allerdings vermisst gerade der Kenner der Materie dann doch den einen oder anderen Titel, der in dieser Bibliografie durchaus seinen Platz verdient hätte – seien es nun Untersuchungen älteren Jahrgangs wie Thomas Wörtches Dissertation "Phantastik und Unschlüssigkeit" oder Marcel Schneiders Untersuchung "Histoire de la littérature fantastique en France", aber auch jüngeren Datums wie etwa Dursts bemerkenswerte Habilitationsschrift "Das begrenzte Wunderbare" (alle drei genannten Titel findet man lediglich in den Bibliografien bestimmter Beiträge). Dies sind aber nur minimale Abstriche, die den positiven Gesamteindruck nicht nennenswert beeinträchtigen können.
Nicht nur die Arbeit der einzelnen Beiträger und der Herausgeber soll Lob finden, auch der Verlag hat gute Arbeit geleistet: Das gebundene Hardcover ist stabil und darüber hinaus auch optisch schmuck, und auch Lektorat und Layout kann man nichts vorwerfen. Der Preis von 64,95 Euro mag vielleicht ein wenig happig erscheinen, ist angesichts der damit verbundenen Leistung aber alles andere als überzogen.
Keine Frage, was der Metzler mit seinem Handbuch zur Phantastik auf den Markt geworfen hat, ist ein kompetenter Kompass durch das wild wuchernde Gestrüpp des phantastikdiskursiven Dschungels, das sein Geld wert ist.
Leseprobe sowie Inhaltsverzeichnis sind auf der Verlagswebsite abrufbar.