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Küss die Hand, gnä’ Frau! Was darf’s denn sein? Eine Fahrt im Fiaker zum Prater? Eine Einladung ins Kaffeehaus? Oder gar ein Besuch des Zentralfriedhofs? Wien ist eine Reise wert. Doch Vorsicht! Auch der Tod ist hier ein oft gesehener Gast. Die blutigen Schlachten gegen die Osmanen haben ihr Erbe hinterlassen. Ist die Pest in der Stadt wirklich überwunden? Und nicht alles, was die Donau anschwemmt, ist von dieser Welt. Der neue Cthulhu-Quellenband entführt Spielleiter und Spieler in die österreichische Metropole.
Nach London ist Wien nun die zweite europäische Großstadt, der ein kompletter Hardcoverband gewidmet wurde (die dritte, wenn man den 2002 erschienen Softcoverband "Berlin" hinzuzählt). Cthulhu mit dem deutschsprachigen Raum als Handlungsort zu spielen, hat spätestens seit der Übernahme des Rollenspiels durch Pegasus-Spiele Tradition. Und in welcher deutschsprachigen Stadt ließe sich Cthulhu besser spielen als in Wien, dem noch heute ein leicht morbider Hauch anhaftet? Der Quellenband umfasst 240 Seiten und ist in vier Kapitel plus zwei Abenteuer untergliedert.
Kapitel 1 "Die Stadt Wien" befasst sich auf 60 Seiten mit der Geschichte der Donaumetropole, enthält einen Abschnitt über die Zustände in den 1920ern sowie einen 22-seitigen Stadtrundgang, in dem die einzelnen Bezirke der Stadt mit ihren Besonderheiten beschrieben werden. Dieser Abschnitt besticht durch zahlreiche Grundrisse berühmter Gebäude, wie dem Stephansdom, dem Burgtheater und Schloss Schönbrunn, sowie einigen separaten Textkästen, in denen beispielsweise näher auf die Universität oder lokale Sagen eingegangen wird. Abschnitte zu Wien und der Donau, Wiens Umgebung und die unverzichtbaren Unheimlichen Orte runden das Kapitel ab.
Kapitel 2 "Wiener Aspekte" ergänzt den politisch geprägten Abschnitt über das Leben in den 1920ern um diverse Bereiche des täglichen Lebens wie Gesundheitswesen, Polizei und Strafgerichtsbarkeit. Für Cthulhu-Spieler dürfte vor allem die Tabelle zu dem Strafmaß für einzelne Verbrechen, aber auch der Abschnitt über Reisemöglichkeiten interessant sein.
Kapitel 3 "Als Spielercharakter in Wien" ergänzt das vorangegangene Kapitel um die banalen Dinge des täglichen Lebens, die nicht gesetzlich geregelt sind, wie etwa einen Abschnitt über die Wiener Mentalität, Recherchemöglichkeiten für Investigatoren oder mögliche Freizeitbetätigungen. Ob man unbedingt eineinhalb Seiten benötigt hätte, um Wiener Gaumenschmäuse mit hochdeutscher Übersetzung aufzulisten, darüber kann gestritten werden. Unzweifelhaft notwendig ist aber das kurze Glossar über die so genannten Austriazismen, damit auch ein norddeutscher Leser mitreden kann, wenn er beispielsweise von einem "Batzi" oder einem "Lackl" hört (die Semmel dürfte spätestens seit "Kommissar Rex" auch Preußen ein Begriff sein.) Ins Auge fallen die zwölf Seiten mit neuen Berufen für Spielercharaktere, wobei ein Großteil nicht neu ist, sondern bereits im Spieler-Handbuch enthalten ist und nun lediglich an Wien angepasst wurde. Ein Beispiel hierfür ist der Fiaker, der auf dem Taxifahrer beruht. Vier Seiten Wiener Persönlichkeiten und drei Seiten an Ereignissen in den 1920ern runden dieses Kapitel ab.
Kapitel 4 "Von Spukgestalten und Mythosumtrieben" widmet sich im ersten Teil realen, Aufsehen erregenden Kriminalfällen und Wiener Spukgeschichten. Der zweite Teil bettet den Cthulhu-Mythos in den Wiener Hintergrund ein und behandelt Geheimgesellschaften, in Wien publizierte Mythos-Werke und die auch in einem der enthaltenen Abenteuer relevante Gesellschaft der Ghoule in der Donaumetropole.
Keine Cthulhu-Städteband wäre komplett ohne ein paar Abenteuer, die Spielleiter und Spieler sofort in die Mythosversion der dargestellten Stadt eintauchen lassen. Im vorliegenden "Wien"-Band sind dies "Der Vogelmann" von Peer Kröger und "Blutwalzer" von Ralf Sandfuchs. Beide Autoren sind Cthulhu-Veteranen, die ihr Können bereits mehrfach unter Beweis gestellt haben. Im ersten Abenteuer wird die Pest-Vergangenheit Wiens thematisiert. Eine Reihe grausamer Morde erschüttert die Stadt, und schon bald sehen sich die Ermittler mit Ghoulen und der Entführung des bekannten Psychoanalytikers Sigmund Freud konfrontiert. Das Abenteuer selbst ist ein typisches Investigationsszenario, wobei die Auflösung sehr originell ist und die Charaktere vor ein moralisches Dilemma stellen kann.
Das zweite Abenteuer nimmt einerseits Anleihen an Lovecrafts "Erich Zann" und führt die Charaktere mit Angehörigen des Officium Sanctum zusammen. Das Finale in und um den Stephansdom ist episch zu nennen, gilt es doch, ein Ritual mit schwerwiegenden Folgen zu verhindern.
Die Aufmachung des Bandes erfüllt alle Ansprüche an einen Cthulhu-Städteband. In der Kartenlasche auf der Innenseite des hinteren Buchdeckels findet sich ein historischer Stadtplan von Wien, für schnelle Markierung wichtiger Seiten ist ein gelbes Lesebändchen in den Buchrücken eingenäht. Das Cover ist ein typischer Escher, der einen guten Eindruck des Gothic-Flairs Wiens vermittelt. Der Preis von 34,95 Euro ist Standard, weswegen der Band wohl nicht für jeden Cthulhu-Spieler ein Pflichtkauf ist, aber mit Sicherheit seine Käufer finden wird.
"Wien – Dekadenz und Verfall" ist ein weiterer gelungener Städteband für das deutsche Cthulhu-Rollenspiel. Erneut hat sich das Team um Jan Christoph Steines größte Mühe gegeben, um eine europäische Metropole glaubwürdig auf dem Stand der 1920er darzustellen. So lässt sich hier bedenkenlos sagen, dass nun auch Wien für Cthulhu-Investigatoren auf jeden Fall eine Reise wert ist.