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Die Geschichtswissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten enorm an Aufschwung gewonnen, das Interesse an der Vergangenheit scheint heute ungebrochener denn je. Doch im Zeitalter von Wikipedia und PowerPoint nimmt das Interesse am Erwerb von Geschichtswissen durch die Auseinandersetzung mit schwerer Fachlektüre ab, gleichzeitig sehnt man sich nach visuellen Darstellungen der Vergangenheit. Aus diesem ambivalenten Wissensdurst heraus entstanden somit diverse historische Atlanten wie etwa der "Putzger" oder auch der mittlerweile zum Klassiker avancierte "dtv-Atlas Weltgeschichte". Ursprünglich zwei Bände umfassend, wurde der Atlas vom Deutschen Taschenbuchverlag vor einigen Jahren erstmals in einer einbändigen, aktualisierten Sonderausgabe zusammengefasst und liegt nun in der zweiten Auflage vor.
Mit dem vorliegenden Werk erwirbt der Käufer eine geballte Ladung Menschheitsgeschichte zwischen zwei Paperback-Buchdeckeln. Auf über 660 Seiten wird vor ihm eine chronologisch aufgearbeitete Darstellung der Vergangenheit von der Altsteinzeit bis zu den jüngsten Ereignissen der Zeitgeschichte - genauer gesagt bis ins Jahr 2004 - ausgebreitet. Der Aufbau des Atlanten begründet den Klassikerstatus des Buches: Findet man auf der linken der Doppelseite stets Bildmaterial - in erster Linie Karten, aber auch Tabellen, Organigramme, Statistiken etc. -, so hält die rechte Seite einen stichwortartigen, aber umfassenden chronologischen Abriss bereit. Keine dieser beiden Einheiten stellt aber einen überflüssigen Part dar: Weder kommentiert der Text nichts aussagendes Bildmaterial, noch dient Letzteres der optischen Auflockerung. Ganz im Gegenteil: Beide Teile ergänzen einander, kommentieren gegenseitig und füllen mögliche Leerstellen aus, welche beim jeweils anderen Part auftreten mögen.
Der "dtv-Atlas Weltgeschichte" ist eindeutig als gelungen anzusehen, führt man sich vor Augen, dass immerhin eine ganze Weltgeschichte "von den Anfängen bis zur Gegenwart", wie der Untertitel wirbt, auf gut 660 Seiten untergebracht worden sind. Dementsprechend gestalten sich die Einschränkungen, denen der chronologische Abriss unterworfen ist: Die Einträge geben stichwortartig die wichtigsten historischen Ereignisse und Situationen wieder und beschränken sich auf eine Aneinanderreihung von Fakten, doch wurde so etwas wie ein roter Faden der Geschichte nicht links liegen gelassen. Für die Geschichte folgenschwere Begebenheiten werden mitsamt ihren Ursachen und Konsequenzen - soweit es im Rahmen der Seitenanzahl möglich ist - dargestellt. Neben politischer und Militärgeschichte fanden auch andere Bereiche der Historie Zugang zum "dtv-Atlas": Für die (Welt-)Religionen entscheidende Momente der Geschichte werden ebenso behandelt wie Kunst und Literatur, Agrarwirtschaft und Bergbau, Erfindungen und Entdeckungen. Karten zeigen dem Leser den prozentuellen Anteil der Juden an der europäischen Bevölkerung des 19. Jahrhunderts, das sowjetische Satellitensystem im Europa nach 1945 oder die innenpolitischen Verhältnisse Südamerikas 1966-2004, Organigramme zeichnen einen kompakten Abriss des römischen Prinzipats oder der deutschen Verfassung vom 16. April 1871.
Sehr erfreulich: Das Wort "Weltgeschichte" im Titel des Atlas stellt keine leere Versprechung dar. Der Fokus entledigt sich der Fesseln einer eurozentristischen Sichtweise, womit der Leser auch Karten und Informationen etwa zum südostasiatischen Raum des 16. Jahrhunderts oder zum postkolonialen Afrika einsehen kann. Leider weist dieser Überblick schmerzliche Lücken auf: Die Pazifik-Region bleibt ebenso größtenteils auf der Strecke liegen wie das präkolumbische Amerika, die Geschichte der Mayas, Azteken und anderen eingeborenen Völker wird aufs Allerwesentlichste zusammengefasst. Den Gipfel im negativen Sinne bilden Australien und Neuseeland: Bis auf eine Erwähnung im Kapitel zum Zeitalter der Entdeckungsfahrten und weiteren äußerst knapp gehaltenen Informationen zur neuzeitlichen Geschichte fehlt vom
Down Under jede Spur.
Dennoch: Alle Mängel können nur in geringem Maße enttäuschen, denn für einen historischen Atlas der Durchschnittsklasse ist der "dtv-Atlas Weltgeschichte" einfach zu gelungen. Das Kartenmaterial überrascht mit einer angenehmen Balance zwischen Detailverliebtheit und Übersichtlichkeit und der ergänzende Text punktet mit nachvollziehbarer Gliederung und sinnvollen Hervorhebungen. Die Handhabung des Werkes geht aufgrund seiner chronologischen Struktur und eines nützlichen Registers positiv auf. Eine Symbiose, die ihrem Titel "Weltgeschichte" nicht vollkommen zu 100 Prozent gerecht wird, aber unbestritten zu DEN Standardwerken unter den historischen Atlanten zählt und nicht umsonst bei Geschichtsstudenten, Lehrern und historisch Interessierten beliebt ist. Der äußerst günstige Preis von 17,50 Euro tut sein Übriges, um die in dieser Rezension formulierte Kaufempfehlung zu unterstreichen.