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Eine Chronik der deutschen Literatur auf fast eintausend Seiten legt der Kröner Verlag vor, vom Hildebrandlied und den Merseburger Zaubersprüchen bis zu Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt" und Thomas Hettches "Woraus wir gemacht sind". Die Autoren Peter und Hartmut Stein (ein Germanistikprofessor und ein Gymnasiallehrer) haben es sich zur Aufgabe gemacht, die deutsche Literatur in ihrer ganzen Breite und in ihrem ganzen Reichtum zu erfassen - chronologisch geordnet und kommentiert, um so Epochen und Strömungen, Zeitphänomene und Entwicklungen deutlich zu machen. Das Buch verfolgt dabei eine erkennbar didaktische Stoßrichtung und wendet sich damit an angehende Literaturstudenten, die sich einen Überblick über die Geschichte der deutschen Literatur verschaffen wollen.
Die Vorgehensweise erinnert freilich an einen Klassiker des germanistischen Studiums, den "Daten deutscher Dichtung" von Herbert und Elisabeth Frenzel - einem zweibändigen Standardwerk, das wohl jeder angehende Germanist auf seinem Schreibtisch stehen hat (erschienen in 35. Auflage bei dtv). Auch dort wird die deutsche Literaturgeschichte chronologisch abgearbeitet; die Chronik aus dem Kröner-Verlag muss man damit als klare Kampfansage auf den Platzhirschen verstehen. Was aber machen Stein und Stein besser oder anders als Frenzel und Frenzel? Zum einen sind die Einträge meist länger als in den "Daten deutscher Dichtung"; dort wird pointiert gerafft und geurteilt. Die Steins bevorzugen eine etwas neutralere Einordnung des jeweiligen Werks in seinen zeitgeschichtlichen Kontext. Die Einträge erinnern dabei schon fast an ein Literaturlexikon, auch wenn freilich Verweise auf die Sekundärliteratur fehlen. Dafür ergänzen die Steins die Werkbeschreibungen zumeist mit kurzen Einlassungen auf die Rezeptionsgeschichte eines Werks, die ja in der heutigen Literaturwissenschaft immer wichtiger wird - seien es nun Verfilmungen, Dramatisierungen, Vertonungen, berühmte Autorenlesungen oder Neuinterpretationen.
Wie die Frenzels warten auch die Steins mit kurzen Essays zu ausgewählten literaturgeschichtlichen Themen auf, die in einem grau unterlegten Kasten im Text stehen, etwa zum Vormärz oder zur Exilliteratur. Diese sind allerdings kurz und teilweise auch oberflächlich geraten; hier punkten eindeutig die Frenzels. Schön wiederum ist die stärkere Gewichtung der Gegenwartsliteratur, die sich bei den Frenzels zum Ende hin stark ausdünnt, während die Steins den Anspruch einer umfassenden Chronik bis zum Ende durchhalten.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Mit der "Chronik der deutschen Literatur" haben Peter und Hartmut Stein ein beachtenswertes Werk vorgelegt, das fortan als gleichberechtigte Alternative zu den "Daten deutscher Dichtung" genannt werden muss. Wer sich zwischen beiden Kontrahenten entscheiden muss, sollte die jeweilige Gewichtung der zwei Chroniken beachten. Wo die Frenzels den Schwerpunkt auf einen raschen, pointierten Überblick legen und die Epochengrenzen strenger fassen, überzeugt bei den Steins die Liebe zum Detail und eine genauere Werkerfassung, die einem oft sogar den Griff zum Literaturlexikon erspart. Zum raschen Einpauken eignen sich damit die "Daten deutscher Dichtung" wohl besser, zur gründlichen Lektüre eindeutig die "Chronik" aus dem Kröner Verlag. Letztlich bleibt die Wahl Geschmackssache, wobei natürlich auch die unterschiedliche Erscheinungsform und Preisgestaltung (Frenzel/Frenzel: zwei Taschenbücher für 20 Euro, Stein/Stein: Hardcover für 39,90 Euro) beachtet werden sollte.
Dennoch wird sich dtv wohl mit der 36. Ausgabe des Frenzel-Klassikers etwas einfallen müssen, um vor allem dessen notorische Schwäche bei der Gegenwartsliteratur auszubügeln. Denn mit Stein und Stein haben die Frenzels würdige Kontrahenten gefunden, deren "Chronik" jedem Studenten der Literaturwissenschaft und jedem Liebhaber der deutschen Literatur nachdrücklich empfohlen werden kann.