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Als der junge Russe Nikolaus Tarabas, Student in Petersburg, zum Revolutionär wird, schickt ihn sein Vater in die USA, wo er, unbeherrscht und allzu sehr von sich selbst eingenommen, nicht Fuß fassen kann. Abergläubisch, wie er ist, konsultiert er eines Tages eine Zigeunerin, die aus seiner Hand liest, er sei ein Mörder und ein Heiliger und habe somit ein zutiefst unglückliches Schicksal.
In New York begeht Tarabas ein Gewaltverbrechen, hört unmittelbar danach vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs und meldet sich zur russischen Armee. Das Kriegshandwerk ist genau das Richtige für den ehrgeizigen, unerschrockenen Tarabas, der auch rasch zum Hauptmann befördert wird. Er führt seine Soldaten mit Härte und Gerechtigkeit, und das Töten und Tötenlassen wird sein Geschäft.
Dann bricht der Frieden regelrecht über Tarabas herein. Dieser besorgt sich seine Beförderung zum Oberst und soll in der Garnison der kleinen Stadt Koropta ein Regiment aufstellen. Doch er versagt; als es zum Pogrom gegen die ortsansässigen Juden kommt, zum Teil ausgelöst durch seine Soldaten, schläft er. Sein Aberglaube reißt ihn schließlich zu einer Scheußlichkeit gegen einen armen, geistig etwas verwirrten Juden hin.
Und hier kommt es zur Wende. Tarabas erinnert sich an die Weissagung der Zigeunerin und wandelt sich vom Quasi-Mörder in der Tat zu einer Art Heiligen, eine Rolle, die ihn ebenso zu einem befremdlichen Gast auf dieser Erde macht wie zuvor jene des unerbittlichen, machtvollen Obersten Tarabas.
Auch in diesem Roman hat Joseph Roth trefflich außergewöhnliche und banale Persönlichkeiten porträtiert. Tarabas, ein nicht gerade sympathischer Charakter, wirkt von Anfang an befremdlich auf den Leser; er lässt sich nicht recht einfügen in ein bestimmtes Weltbild und wirkt trotz seines rauen, nicht selten brutalen Auftretens seltsam verloren.
Die Prophezeiung der Zigeunerin - das Wort stammt aus dem Roman - zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman und gewinnt am erwähnten Wendepunkt ihre volle Bedeutung. Zuvor bereits wird eine Art Wende eingeleitet, als ein scheinbar mystisches Ereignis zum Pogrom führt. Tarabas? Wandlung, seine Entscheidung zur unbedingten Sühne, kommt angesichts seines Glaubens an die Prophezeiung schließlich nicht ganz überraschend.
Fast ist man an Dostojewski erinnert angesichts der religiös-mystischen Irrungen und Wirrungen und menschlichen Abgründe, die sich durch den Roman ziehen. Roth, selbst jüdischer Abkunft, hat in diesem Roman zudem die Situation der kleinen jüdisch-russischen Geschäftsleute und Bürger zu Beginn des 20. Jahrhunderts geradezu herzzerreißend, zutiefst anrührend dargestellt und auch insgesamt ein vielfarbiges Zeugnis der osteuropäischen Kleinstadt um 1918 geschaffen.
Tarabas, einst hochfahrender Student mit revolutionärem Potenzial, dann überzeugter Offizier, muss erkennen, dass manch kleiner Bürger, und sei es ein jüdischer - und in Tarabas' Schicht somit wenig angesehener - Gastwirt oder Bettler, mehr Lebensweisheit in sich birgt, als er selbst je erwerben wird.
Der Mittelteil des Romans zieht sich gelegentlich in die Länge für Leser beziehungsweise Hörer, die Berichten vom Kriegshandwerk nicht allzu viel abgewinnen können. Größtenteils aber reißt die Handlung mit und vermittelt dem Hörer die starken Emotionen der Protagonisten sehr intensiv.
Die ungekürzte Hörbuchfassung wirkt dank der dramatischen Interpretation durch Joseph Lorenz sehr gelungen. Lorenz lässt den Hörer ganz unmittelbar an der gewaltigen Spannung teilhaben, die sich durch den Roman zieht. Ausdrucksvoll, doch nicht manieriert trägt er Roths Werk vor, wo nötig, sehr stimmgewaltig - und immer in Einklang mit der Handlung.
Insofern ist auch die Hörbuchfassung dieses Werkes der Weltliteratur sehr zu empfehlen.
Die schlicht-schöne und hochwertige Verarbeitung und Aufmachung, wie man sie von Diogenes gewohnt ist, überzeugt nicht minder.
"Tarabas" gehört zu den wichtigen Werken der deutschsprachigen Literatur und überzeugt auch in der Hörbuchversion von Diogenes: ein bedrückender, ein wenig mystischer Roman um die Auflösungserscheinungen der osteuropäischen Gesellschaft im frühen 20. Jahrhundert.