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 Faltungen

Fiktion, Erzählen, Medien


Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Preis - Leistungs - Verhältnis


Differenztheoretische Reformulierungen der Literaturwissenschaft sind in den letzten Jahrzehnten wie Sand am Meer und häufig auch wie Sand im Getriebe der Interpretation erschienen. Es gab und gibt die Dekonstruktivisten, die Diskursanalytiker, die strukturalen und semiotischen Psychoanalytiker, … und natürlich die Systemtheoretiker. Bunia müsste man den letzteren zurechnen. Seine Kenntnisse der Systemtheorie und vor allem der Schriften Luhmanns sind sehr präzise und damit deutlich über dem Niveau mancher ach so buchstabengetreuer Adepten des deutschen Soziologen. Wären da nicht zwei Einschränkungen oder Erweiterungen. Denn erstens kennt sich der Autor auch mit anderen Theorien hervorragend aus und zweitens geht er so elegant seinen eigenen Weg, weit abseits von Luhmanns trockenem Duktus, dass ein Vergleich zunächst nicht ins Auge springt.

Was beschreibt Bunia? - Thema des Buches sind Faltungen. Als Faltung bezeichnet der Autor "Unterscheidungen, die das Unterschiedene gleichzeitig als Identisches kennzeichnen." Und er führt weiter aus: "Ähnlich wie Paradoxien führen Faltungen zu einem Stocken im Umgang mit der Welt und erfordern eine Übersetzung, ein Management, eine Zwischenlösung." Diesen zentralen Begriff führt er nun in drei separaten Teilen anhand der Begriffe Fiktion, Diegese und Medien weiter aus.
Der erste Teil - Fiktion - behandelt das (künstlerische) Erschaffen von Welten. Was macht ein Text, wenn er eine Welt erschafft? Ahmt er eine Welt, und sei es eine imaginäre, nach? Gleicht der Text sich einer Welt an? Oder konstruiert er sie, aber wenn, dann mit welchem Bezug zu der Welt, in der wir leben? Bunia macht anhand einiger Abschnitte klar, dass die Frage hier vor allem ist, welche Unterscheidungen man trifft und treffen kann und wie sinnvoll diese Unterscheidungen sind. So definiert er den Begriff der Transformationsinvarianz, "wenn man … ‚unfreiwillig’ keinen Unterschied macht und die Dinge gleichsetzt, …", also in etwa das, was Adorno als "automatisches Erkennen" bezeichnet.

Die Pointe dieses Begriffes ist allerdings, dass mit der Transformationsinvarianz die Fiktion als faktional genommen wird, als real, oder, anders ausgedrückt: Wer mit glühenden Ohren die Reise seiner Helden durch düstere Länder verfolgt, schert sich nicht um die Fiktionalität der Erzählung, sondern ist bereit, diese als Tatsache zu erleben. Wie dicht also ein Text an der Realität ist, ist nicht Kunst des Autors, sondern eine Folge "operativer Festlegungen". Realität passiere dort, wo die Konsistenzprüfung scheitert, das heißt dort, wo ein System den Widerstand der Realität erfährt. Systeme, also zum Beispiel psychische Systeme (= denkende Menschen), arbeiten aufgrund interner Strukturen und erst, wenn diese Strukturen kein leichtfertiges Weitermachen erlauben, gerät die Konsistenz der Welt in den Blick. - Es führt hier zu weit, alle weiteren Argumentationslinien Bunias vorzustellen. Eins aber dürfte nach dem ersten Teil sehr deutlich sein: Im Rahmen aller differenztheoretischen Behandlungen von Mimesis, Nachahmung, Welt, Textkohärenz, Realität oder Darstellung bringt der Autor ein durchdachtes, problemorientiertes Konzept ins Spiel.

Auch der zweite Teil überblickt ein enormes Lesepensum. Der Begriff der Diegese ist undeutlich rezipiert worden. Er bezeichnet - grob gesagt - die Welt, die aus einer Erzählperspektive heraus konzipiert worden ist. Während der Begriff des Settings aus dem kreativen Schreiben die fiktive Welt für den Autor bezeichnet, wird bei der Diegese noch eine fiktive Perspektive dazugerechnet und zugleich aus der Fiktion "ein wenig draußen" gehalten. Nun ist die Perspektive aber gerade im moderneren Roman eine teils widersprüchliche, teils inkonsistente, teils vielfältige, so dass sich die Diegese entlang einer Zeitstruktur entwickelt, die eng mit der erzählten Zeit zusammenhängt. Allerdings, und das ist eine der Pointen dieses zweiten Teils, stellt Bunia fest, dass die Diegese weniger mit dem Erzählen, sondern mit dem Darstellen zu tun hat, sobald man ihn in die Tiefe hin analysiert. Und damit kann Diegese auch nicht mehr nur von der Erzähltheorie in Anspruch genommen werden, sondern muss insgesamt als der unmittelbare Sinn und die unmittelbare Aktualisierung von Darstellungsmodi gesehen werden. Wenn aber Diegese das "Wie?" der unmittelbaren Darstellung bezeichnet, dann taucht darin schon das Paradox des Beobachters zweiter Ordnung auf. Der Beobachter zweiter Ordnung beobachtet, wie andere Beobachter beobachten. Trotzdem beobachtet auch er und kann dabei wiederum beobachtet werden. Das heißt, auch wenn der Beobachter zweiter Ordnung andere Beobachtungsweisen reflektieren kann, beobachtet er selbst unmittelbar. Wenn ich aber die unmittelbaren Darstellungsweisen reflektiere, sind diese nicht mehr unmittelbar; dafür aber stellt sich nun die reflektierte Darstellung unmittelbar ein, von der ich mich wiederum nur im Nachhinein lösen kann. Dies führt für die Darstellung zu weitreichenden Folgen, die Bunia in einigen Aspekten geistreich vertieft.

Wo endet ein Medium? Wo beginnt es? Dieses Problem beschäftigt den dritten Teil. Auch hier geht es um Faltungen. Hat der Strukturalismus den Code als die Einheit eines gewohnten Zusammenschlusses definiert - die Ampel mit ihren vier Signalzuständen ist ein Paradebeispiel dafür -, so ist der umstrittene Begriff des Mediums vor allem der Grenze geschuldet, die nicht präzise definiert werden kann. Zudem kommen ganz andere Schwierigkeiten hinzu. Ist die Sprache ein Medium, das sich vom Medium der Darstellung und vom Medium der Erzählung abgrenzen lässt? Vorausgesetzt natürlich, es handelt es um Medien. So ist zum Beispiel der Begriff des Rahmens (sei es Goffman, sei es Derrida) ein umstrittener Begriff, der aber für das Medium der Darstellung notwendig scheint, um den Übergang von Darstellung und Nicht-Darstellung zu regeln. Bunia definiert nun den Rahmen als "modalisierte[n] Beobachter, der sich anschickt, die Wahrnehmung zu regeln; er gibt dem Beobachter der Darstellung [dem Leser, dem Zuschauer] Anweisungen, wie ein Beobachter zu beobachten hat."
Da nun aber jeder Sinn seinen Gegensinn implizit mit sich führt, kommt es zu den programmatischen Unsicherheiten, wenn man die Einheit beobachten möchte, die der Rahmen umschließt.

Bunias Buch kann man durchaus als ein schwieriges Buch bezeichnen. Auch wenn es elegant geschrieben ist, kommen hier viele Argumentationen so dicht komprimiert und führen einen so notwendig zu den Abgründen des Denkens, dass man es erstens sehr langsam lesen und zweitens viel reflektieren sollte. Der Begriff der Darstellung ist ja nicht nur für Literaturwissenschaftler interessant, sondern geschieht, sobald wir die Zeitung aufschlagen oder Blumen auf dem Balkon arrangieren (um hier von Bunias eigentlicher Materie etwas abzuweichen). Und ebenso ergeht es uns im alltäglichen Leben und dem Literaturwissenschaftler und dem Autoren in seinem Metier, mit dem Medium, der Fiktion, dem Rahmen, dem Ende (vielleicht haben Sie schon mal Probleme gehabt, sich zu verabschieden, ohne dass es peinlich ist).
Ein äußerst belesener Autor bringt hier Literatur und Philosophie auf wundervolle Weise zusammen. Er greift auf Romane verschiedener Epochen zurück, sei es Rainald Goetz oder E.T.A. Hoffmann, sei es Jean Paul oder André Gide, und interpretiert und analysiert sie, ohne ihnen ihre Faszination zu nehmen. Dabei flicht er Beobachtung der Literatur, Literaturtheorie und wissenschaftliche Reflexion als selbstverständlich ineinander. Das Buch gilt - wie gesagt - zuerst den Literaturwissenschaftlern. Wer sich hier aber mit Transferleistungen in andere Gebiete vergnügen möchte, bekommt präzise und kluge Begriffe an die Hand, sei es für Massenmedien, für Balkondekorationen (also für das alltägliche Theater), für pädagogische Diagnostik oder für Verkaufsmanagement.
In letzter Zeit durfte ich einige hervorragende Bücher lesen; Bunias Buch "Faltungen" gehört hundertprozentig dazu.

Frederik Weitz



Taschenbuch | Erschienen: 01. April 2007 | ISBN: 9783503098095 | Preis: 49,80 Euro | 427 Seiten | Sprache: Deutsch

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