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"Private Eye" ist eine Legende unter Rollenspielern. Das Detektivrollenspiel, ursprünglich geschrieben von Thilo Bayer, erschien vor zwanzig Jahren in erster Auflage, damals noch als schlicht kopiertes Heft und vertrieben von den Autoren selbst. Schnell erlangte es Kultstatus, denn was Bayer und seine Mitstreiter hier erschaffen hatten, gilt bis heute als meisterhaft: die dichte Atmosphäre des viktorianischen Englands, eine exzellente Recherche über die polizeilichen Ermittlungsmethoden im 19. Jahrhundert und eine gelungene Bebilderung setzten Maßstäbe, die auch von "professionellen" Rollenspielverlagen lange Zeit nicht gebrochen werden konnten. Selbst das 2004 erschienene Cthulhu-Quellenbuch "London" musste da passen.
Nun erscheint also endlich eine Neuauflage des legendären Rollenspiels, diesmal bei der Redaktion Phantastik und mit völlig veränderter Gestaltung. Als Hardcover im Cthulhu-Stil kommt "Private Eye" Version 4 nun daher, und auch die Gestaltung im Innenteil erinnert stark an den großen Bruder "Cthulhu" von Pegasus Press. Das Buch ist natürlich bildschön geworden, die Bebilderung hochwertig, das Layout stimmig, die beiliegende Londonkarte (ein historischer Nachdruck) großartig; doch die zu enge optische Anlehnung an die Pegasus-Produkte nimmt "Private Eye" ein wenig von seiner Eigenständigkeit.
Darüber sollte man allerdings nicht lange hadern, denn die inneren Werte überzeugen auch 2008. Wieder quillt dieses Buch über an toll recherchiertem Material aus dem viktorianischen London; der Leser erfährt alles über das British Empire, die Stadt London, seine dunklen Gassen und den Umgangston in der hohen und niederen Gesellschaft. Der Hintergrund ist dabei noch mehr ausgearbeitet als in der Urversion. Das Herzstück des Buches ist der Abschnitt zur Kriminalität, verkörpern die Spieler doch Detektive und sonstige Spürnasen, die sich dem Aufklären von Morden, Raubzügen und absonderlichen Begebenheiten verschrieben haben. Natürlich standen im 19. Jahrhundert noch keine modernen Ermittlungsmethoden zur Verfügung, aber erste Ansätze für Fingerabdruckvergleich, Blutuntersuchung oder Ringfahndung waren vorhanden und können von aufgeweckten Spielgruppen verwendet werden. Natürlich fehlt auch eine ausführliche Auflistung der berühmtesten Verbrechen des Zeitalters nicht; Jack the Ripper, Dr. Crippen und Konsorten lassen grüßen. Ein Sonderabschnitt befasst sich mit der fiktiven Figur Sherlock Holmes, die man - wenn man von der historischen Wahrheit etwas abweichen mag - im Spiel als Auftraggeber oder auch Kontrahenten einsetzen kann.
Alles in allem ist das hier dargebotene Material nach wie vor erstklassig und im Vergleich zu früheren Auflagen deutlich erweitert worden. Der Quellenteil nimmt nun stolze 150 Seiten ein (während etwa die 3. Auflage insgesamt nur 95 Seiten umfasst). Mehr heißt allerdings nicht unbedingt besser, denn die einzelnen Textpassagen sind manchmal zu schwatzhaft geraten; die Fakten muss man oft mühsam herausfiltern.
Auch das Regelsystem wurde erweitert. Dieses umfasste im alten "Private Eye" kaum 16 Seiten, war sehr reduziert gehalten und bot ein nur rudimentäres Kampfsystem. Einen völligen Neuanfang wagt auch die Neuauflage nicht, fügt aber ein paar Kampfmanöver hinzu, baut das Erfahrungspunktesystem aus und bietet eine weit größere Palette an möglichen Berufen und Hintergründen. Wirklich elegant ist das System aber auch im Jahr 2008 nicht; vor allem mangelt es an Charme. Gerade die eigentliche Profession der Spielcharaktere, ihre detektivischen Aktionen, wird über die Regeln unzureichend unterstützt. Ein stimmiges System zum Stöbern, Befragen, Schnüffeln, Durchsuchen und dergleichen wäre wirklich hilfreich gewesen, doch all dies wird abstrakt über Fertigkeiten abgewickelt - ohne weitere Erläuterung. Schade, hier hätte "Private Eye" sehr viel Boden gutmachen können.
Gleiches gilt auch für das Abenteuer im Anhang. "Familienglück" von Martin Lindner wartet mit einem verzwickten Plot um die Familie eines Gastwirts auf; gebrochene Herzen, Heiratsschwindelei und Erpressungsversuche mit inbegriffen. Die Ermittler geraten als Zeugen in den Fall hinein, der leider sehr unspektakulär und einschienig verläuft. Die Atmosphäre und die Figuren überzeugen nicht, nur wenige Ermittlungsmethoden kommen zum Einsatz. Alles in allem ist Lindners Abenteuer kein sonderlich guter Einstieg in die Welt von "Private Eye" - ein knackiger Mordfall wäre passender gewesen, mit nebelverhangenen Londoner Gassen, Gaunerkneipen, zwielichtigen Informanten und geheimnisvollen Spuren, die es zu untersuchen gilt. Auch hier verschenkt die Neuauflage viel Potential.
Freilich ist "Private Eye" auch im Jahr 2008 ein echter Diamant. Die Neuauflage spendiert Thilo Bayers Meisterstück ein würdiges Erscheinungsbild, und der Quellenteil über das viktorianische London macht das Buch sogar für andere Systeme interessant ("Castle Falkenstein", "Midgard 1880", "Cthulhu" oder "Space 1880"). Wer allerdings eine ältere Ausgabe besitzt, kann auf die Neuanschaffung verzichten - die Stärken, die "Private Eye" auszeichnen, sind schon damals vorhanden gewesen und kamen sogar etwas aufgeräumter daher. Zudem strahlen die Regeln und das Abenteuer der Neuauflage zu wenig Charme aus. Abgesehen davon: eine willkommene Abwechslung vom Rollenspiel-Einheitsbrei; ein klassisches Detektivrollenspiel, das jeder Fan von Arthur Conan Doyle im Schrank stehen haben sollte, ob nun in der 3. oder 4. Auflage.