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Das Thema Jugendgewalt ist nach wie vor ein Reizthema. Man stößt hier auf alle möglichen Formen des Abwehrverhaltens, von gegenseitigen Schuldvorwürfen über hemmungslose Intellektualisierung bis hin zur emotionalen Verdrängung. Im Fokus steht dabei immer noch die Familie als eine der beiden wesentlichen Sozialisationsformen. Die andere ist natürlich die Schule.
In diesem Buch, dem achten in einer Reihe über die veränderte Kindheit und deren Bedeutung für Erziehung und Sozialisation, in diesem Buch also geht es um Autorität und Gewaltprävention, mithin um das Zusammenspiel von vorgelebten Werten und dem Verhindern von unsolidarischem oder kriminellem Handeln.
Reinhard Voß als Herausgeber eröffnet den Band mit seinem Aufsatz
Beziehungspartnerschaft Familie - Schule. Darin fordert er eine Vernetzung der verschiedenen Institutionen, vor allem von Schule und Familie und vor allem ein Aufweichen der Grenzen zwischen ihnen. Er gibt einige Richtlinien vor, die dafür notwendig sind: eine gewisse konstruktive Haltung, ein Verständigen über Voraussetzungen der Arbeit und ein gemeinsames Ziel, Elternbildung, Gleichberechtigung zwischen Eltern und Professionellen. Insbesondere warnt er vor Sonntagsreden. Diese würden in Worten begrüßen und in Taten vermeiden.
Sigrid Tschöpe-Scheffler stellt im folgenden Aufsatz verschiedene Modelle der
Unterstützung elterlicher Erziehungskompetenz vor. Diese Aufgabe sei durch die Elternpflicht zur Erziehung und das Kinderrecht auf gewaltfreie Erziehung auch gesetzlich verankert. Da es hier mittlerweile ein Überangebot für Eltern gibt, hat die Autorin einen kurzen Kriterienkatalog entwickelt, um die Qualität von Elterntrainings zu beurteilen. Abschließend betont sie, dass solche Methoden nicht über die Eltern drübergestülpt werden dürfen, sondern mit ihnen erprobt, entwickelt und verändert werden sollen.
In
Autorität und Familie stellt Dieter Thomä zwei problematische Entwicklungen in der modernen Gesellschaft - Jugendwahn und Rückzug der Jugendlichen in peer-groups - den klassischen Werten von Autorität und Familie gegenüber. Dabei besteht der Kern des Artikels in einer Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Familienpropaganda und Schriften von Horkheimer und Arendt zur Autorität und den Leistungen der Familie. Dies verlängert Thomä dann in die heutige Zeit hinein, um darauf hinzuweisen, dass ein kritisch durchdachtes Familienbild durchaus zeitgemäß sein kann und Autorität kein Unbegriff sein muss.
Als eine wesentliche Ursache jugendlichen Problemverhaltens sieht Haim Omer, Professor für Psychologie in Tel Aviv, das ungeklärte Verhältnis zwischen elterlicher Aufsicht und Privatsphäre des Jugendlichen. Viele Eltern neigten bei Problemen dazu, die Privatsphäre entweder zu sehr zu schützen oder aber auf unklare Weise zu missachten. Omer zeigt deutlich auf, dass zwar auch problematische Jugendliche ein Recht auf Privatsphäre haben, aber dass diese Privatsphäre im Verhältnis zu dem Familienleben steht und zu der Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen. Damit überführt er aber das Problemverhalten eines Einzelnen in eine Herausforderung für ein soziales Netzwerk, insbesondere des Familiensystems. Die sehr praktisch gehaltenen Grundlagen erläutert Omer in seinem Artikel
Elterliche Präsenz und Aufmerksamkeit. In dem anschließenden Artikel
Gewalttätig gegen die eigene Mutter unterhält sich Omer mit der Mutter eines vierzehnjährigen Jungen und zeigt hier, wie ein lösungsorientiertes Gespräch aussehen kann.
Klewin und Tillmann werten in ihrem Artikel
Gewalt an deutschen Schulen vor allem verschiedene Datenerhebungen aus und kommentieren deren Ergebnisse. Diese sind nicht neu: engagierter Unterricht, Entwicklung der Sozialformen und kompetente Intervention bei Gewalt beugen am besten vor. In dem nachfolgenden Interview mit dem Interimsrektor der "berüchtigten" Rütli-Schule, Helmut Hochschild, erläutert dieser, wie das von Rektorenseite aussehen kann.
Der Praxis sind auch die letzten drei Kapitel gewidmet. Haim Omer und Rita Irbauch schreiben über den
gewaltlosen Widerstand gegen Schulgewalt, Manfred Cierpka und Andreas Schick über die
Förderung von Verhandlungskultur bei Kindern und Reinhard Voß über die
Stadtteilarbeit mit auffälligen Grundschülern.
Dieses Buch bietet wenig harte Theorie hinter den insgesamt dicht an der Praxis gehaltenen Artikeln an. Zwar spürt man deutlich, dass jeder einzelne Autor hier eine gute Anbindung hat und so aus einer kompetenten Sicht heraus schreibt; der Leser wird jedoch keinen "Gang durch die Disziplinen" finden. Das kann man begrüßen oder nicht.
Ziel dieses Buches ist der distanzierte und reflektierte Blick auf die Praxis. Und das kann, wie in diesem Fall, zu einer Sammlung hervorragender Texte führen. Besonders spannend dabei sind die beiden israelischen Vertreter Haim Omer und Rita Irbauch, die eine ganz andere Perspektive einführen, schon alleine durch den Schreibstil, aber auch durch ein anderes Selbstverständnis des systemischen Blicks. Das macht auch neugierig, weitere nationale Ausprägungen des Umgangs mit Jugendgewalt kennenzulernen.
Es gibt keinen Artikel, den man als besonders qualifiziert unter diesen hervorragenden Artikeln nennen kann und keiner der Autoren fällt hier negativ heraus. Es ist ein gut durchdachter Sammelband zu einem aktuellen Problem mit zeitgemäßen Lösungsansätzen. Neben der Vertiefung für mit diesem Thema Erfahrenen ist es auch ein guter Einstieg in die Herausforderungen, gerade weil die Theorie strukturierend mitschwingt, aber nicht Schwerpunkt ist. Und damit kann selbst der "Einsteiger" vieles rasch nachvollziehen.
Fazit: Auch dieser achte Band zur systemischen Pädagogik mit Reinhard Voß als Herausgeber ist gewohnt empfehlenswert.