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 Das Glück in glücksfernen Zeiten


Cover
Gesamt ++++-
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Humor
Spannung


"Ich bin eher stumm", erzählt der Protagonist Gerhard Warlich aus Wilhelm Genazinos neuem Roman "Das Glück in glücksfernen Zeiten", "und suche in meinem Inneren nach Worten." Und das beherrscht er ganz meisterhaft. Mit dem liebe- und zugleich hasserfüllten Blick eines ideosynkratischen Melancholikers betrachtet er seine Umwelt, "zwei Enten, die über den Platz watscheln", "Geschäftsleute mit Hosenträgern", seine Lebensgefährtin Trude und sein übriges Umfeld. Doch so sehr er sich auch bemüht, immer mehr erscheint ihm dieses Umfeld als Zumutung. Es genügen Anlässe wie Rentnergruppen oder unangenehme Aufgaben in seinem Beruf als Geschäftsführer eines Wäschereiunternehmens, um seine Laune zu verderben und ihn zu nötigen, in seiner Umwelt nach Beobachtungen zu suchen, die er als Rettungsanker benutzen könnte.

Diese Detailbesessenheit ist typisch für die Protagonisten Genazinos; auch die Erzählerfiguren der Romane "Die Liebesblödigkeit" und "Ein Regenschirm für diesen Tag" besitzen diesen exakten Blick. Es ist jener Blick, den Walter Benjamin in den Gedichten von Charles Baudelaire suchte und fand, eine Beobachtung unter dem Vorzeichen der Melancholie und des Verfalls. Jene Beobachtungen der Umwelt, die der Flaneur in den Passagen bei seiner vornehmlichen Beschäftigung - dem Müßiggang - macht. Auch Gerhard Warlich geht dieser "Beschäftigung" nach, nur tut er dies während seiner Arbeitszeit, der Taylorismus hat sich durchgesetzt - und er wird entlassen.

Gerhard arbeitet sich an einem Problem ab, das sein sprechender Name schon andeutet: der Wahrheit, der Realität. Denn die Realität ist eine Zumutung in ihrer Diskrepanz zu den unerfüllten Wünschen. Dazu gehört auch Traudel. Denn natürlich habe er, Gerhard "nichts gegen Traudel. Ich komme nur nicht damit zurecht, dass ich mich fortlaufend zu ihr verhalten muss." Und so hält er lieber jenen Sicherheitsabstand ein, den ihm seine Beobachtung verschafft. Es ist ein Bedürfnis nach Kontrolle, das er sich erhofft. "Ich möchte", denkt er, "so leben, dass durch das Leben keine Geheimnisse mehr entstehen". Dagegen setzt Gerhard die Phantasie, gleich, ob er nun Ereignisse für einen Brief an seine Schwester erfindet oder das Institut für Besänftigung für seinen Bekannten Gerd Angermann. Die Phantasie wird zum Notausgang - oder zur Wahrheit? Handelt es sich um eine Flucht oder eine höhere Ebene der Reflexion?

So genau Gerhard Warlich seine Umwelt auch beobachtet, er bezieht sie immer auf sich, schildert sie aus seiner Perspektive, aber lässt sie nie zu nahe an sich heran, sondern wahrt seine melancholische Distanz. Oder ist das am Ende zu einfach? In dem ungeheuer sanften Tonfall, der Genazino zu Eigen ist, stellen sich nach und nach immer mehr Fragen, doch nicht auf eine aufdringliche Art und Weise. Das mag nicht mitreißen, aber es zieht den Leser in seinen Bann, belässt ihn aber trotzdem in seiner Beobachterposition. Mit Sicherheitsabstand und Notausgang.


Stefan Rehm



Hardcover | Erschienen: 01. Februar 2009 | ISBN: 9783446232655 | Preis: 17,90 Euro | 160 Seiten | Sprache: Deutsch

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