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 ADHS - Kritische Wissenschaft und therapeutische Kunst


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Preis - Leistungs - Verhältnis


Jean Paul, vergessener deutscher Dichter und Satiriker, schrieb einmal eine Rede eines Schulrektors, die mit der gleichen Ausgangsposition erst das eine bewies und dann noch einmal genau sein Gegenteil. Wie man aus der nämlichen Ausgangsposition Unvereinbares macht, galt damals als Satire. Heute findet man es in der Diskussion um ADHS, ganz ohne Jean Paulsche Qualität. Zur Vorsicht wird selten gemahnt, geht es doch auch darum, seine eigenen Konzepte oder Medikamente zu verkaufen oder schlichtweg sich nicht allzu viele Gedanken machen zu müssen.

Das Buch, das unter der Leitung von Helmut Bonney zwölf Aufsätze versammelt, führt in die neuesten Forschungsergebnisse ein und stellt Behandlungsansätze vor. Der wissenschaftliche Teil beharrt dabei auch sehr darauf, dass die Hirnforschung, entgegen mancher Behauptung, aber auch entgegen aller Fortschritte, die sie erzielt hat, noch nicht zu eindeutigen Ergebnissen gekommen ist. Der therapeutische Teil zeigt anhand dieser Grundlagen, wie leichtfertig mit der Diagnose von ADHS umgegangen wird, teilweise von wenig oder gar nicht ausgebildeten Personen.
Das Buch gliedert sich in fünf Abschnitte, die jeweils einen Aspekt von ADHS herausgreifen. Zuvor führt Helmut Bonney in das Thema ein. Er fasst die aktuellen Problemgebiete zusammen und beleuchtet vor diesem Hintergrund die Karriere des Begriffs Aufmerksamkeit.

Der erste Abschnitt des Buches ist den Behandlungskonzepten gewidmet. So untersucht Hannes Brandau an Mozart und Edison, beides sehr übereifrige Produzenten und beide mythisch verklärt, Unterschiede zwischen dem damaligen und heutigen Umgang mit überaktiven Kindern. Dabei setzt er sich für einen ressourcenorientierten Ansatz ein, der natürlich erst dann funktionieren kann, wenn defizitorientierte Behandlungsmuster aufgedeckt und dekonstruiert worden sind.
Auch Hans von Lüpke untersucht scheinbare Sicherheiten. Daten liefern eine zunächst manifeste, auf den zweiten Blick aber trügerische Klarheit. Auch Denkmodelle von der "Krankheit" ADHS können in die falsche Richtung führen und so die darauf aufbauenden Behandlungen nur zum Teil hilfreich, zum Teil aber auch kontraproduktiv sein.
Schließlich zeigen Gerd Glaeske und Edda Würdemann anhand von der Versorgungsforschung, wie unterschiedlich ADHS regional diagnostiziert und behandelt wird. Diese Unterschiede weisen auch auf regional geprägte, nicht unbedingt auf hilfreiche Handlungskonzepte hin.

Hat sich der erste Abschnitt mehr auf die sozialen Aspekte der medizinischen Versorgung gestützt, so fokussiert der zweite die Neurobiologie. Alle Autoren gehen von der sogenannten Dopaminmangel-Hypothese aus und hinterfragen diese auf ihre Haltbarkeit. Bisher wurde der Dopaminmangel, der dann durch die Einnahme von Methylphenidat (sprich: Ritalin©) "ausgeglichen" wurde, als eine wahrscheinlich genetische Störung betrachtet.
Gerald Hüther hinterfragt die genetische Hypothese. Dabei führt er zum einen die Neuroplastizität ins Feld. Das Gehirn ist das pädagogischste aller Organe, so hat der russische Psychologe Alexander Luria geschrieben; unter dem Eindruck der Kultur verändert es seine Strukturen und kultiviert sich so selbst. Die andere Vorsicht, die man heute walten lassen sollte, ist die Begründung mit der Wirkung der Gene. Selbst wenn ein Mensch bestimmte Gene besitzt, müssen diese nicht aktiviert sein. Diese Tatsache, dass Gene situativ aktiviert und deaktiviert werden können, nennt sich Genexpression.
Vor dem Hintergrund von Neuroplastizität und Genexpression ist aber nicht nur die Frage, wann und wie ADHS vererbt werden könnte, sondern auch, welche Folgen welche Behandlungsmethoden haben. Hüther entwirft hier die Möglichkeit, dass kulturelle Einflüsse ein starkes Element in der Genese von ADHS sind und mithin frühkindliche Erfahrungen das Gehirn und/oder die Gene zu der ADHS "drängen". Es ist noch kaum abzuschätzen, was dies für die Prävention heißt.
Die Autoren Thorsten Grund, Andrea Schäfers und Gertraud Teuchert-Noodt stellen neue Forschungsergebnisse vor, wie sich Psychostimulanzien wie Methylphenidat auf die Neuroplastizität auswirken. Sie stellen fest, dass die Vergabe von Methylphenidat langfristig sogar kontraproduktive Effekte haben kann und warnen vor einer rein medikamentösen Behandlung und vor dem Missbrauch von diesem Medikament.
Auch Helmut Bonney befasst sich mit der Wirkung von Neurostimulanzien und zum Beispiel ihrem plastischen Effekt an den Synapsenübergängen im Gehirn. Methylphenidat kann gerade nicht kulturell angepasste Regelkreise im Gehirn schaffen. Eine rein medikamentöse Behandlung kann deshalb nicht zu größeren Funktionszusammenhängen führen. Zudem basiert die Dopaminmangel-Hypothese immer noch auf wesentlichen Unsicherheiten. Eine kombinierte Strategie aus pädagogisch-therapeutischen Maßnahmen und medikamentöser Behandlung sei also dringend erforderlich.

Im dritten Abschnitt werden pädagogische Handlungsfelder beleuchtet. Karl Gebauer schreibt über Erfahrungen und Maßnahmen in der Schule, Helga Rühling über Möglichkeiten in einer Erziehungsberatungsstelle. Fasst man beide Artikel zusammen, so zeigt sich deutlich, dass die Fronten vor allem zwischen den unterschiedlichen, teils heimlichen Motiven von Diagnosen laufen und was dies für die weitere Behandlung bedeutet. Karl Gebauer geht so weit, dass er von einem Aufmerksamkeitsdefizit von Eltern, Lehrern und Ärzten spricht. Helga Rühling deutet das Abschieben des Kindes in die Diagnose ADHS auch als eine komplexe Entlastungsfunktion für alle Beteiligten, der die Erziehungsberatungsstelle durch Vernetzung, Aufklärung und tragfähige Beziehungen zu begegnen hat.

Der vierte Abschnitt fokussiert therapeutische Modelle und Behandlungen. Hans Hopf stellt Beziehungen zwischen ADHS, archaischen Bewegungsmustern, psychosozialer Entwicklung und der heutigen Kultur her. Die psychische Bedeutung von Bewegungsunruhe habe viele Funktionen und viele Ursachen. Zum Schluss stellt er fest, in welchem Dilemma unruhige Kinder stecken: "Unsere Gesellschaft produziert zwar auch [wie frühere Kulturen] unruhige Kinder, aber sie erträgt sie nicht." - Ein zweiter Artikel fokussiert das Aufmerksamkeitstraining und die Impulskontrolle anhand eines für Kinder attraktiven Lernspiels.
Abschließend fasst der Herausgeber den Forschungsstand noch einmal zusammen und diskutiert ihn an einem Fallbeispiel.

Die Sorgfalt, mit der Aufsatzsammlungen im Carl-Auer-Verlag herausgegeben und untereinander vernetzt werden, muss immer wieder lobend hervorgehoben werden. So auch bei diesem Buch. Den teilweise recht bizarren Behauptungen über ADHS wird hier eine streng wissenschaftliche, lesbar vermittelte Haltung gegenüber gestellt.
Besonders aber der Kompensierung sozialer Probleme durch angebliche neurobiologische Defekte zeigt dieses Buch, was von einem solchen Vorgehen zu halten ist: nichts. Kinder mit ADHS sind nicht einfach krank. Sie entwickeln ihre Symptome in einem komplexen Zusammenspiel zwischen Umwelt und neuronaler Plastizität. So dürfte dieses Buch für viele Menschen hoffentlich (noch mal) ein Augenöffner sein.
Allemal sollte man dieses (oder ein ähnliches) Buch zur Pflichtlektüre für Betroffene erklären. Kompetenz hat noch niemandem geschadet, Aufklärung nur den Dummen. Kompetenz und Aufklärung verdienen auch schwierige Kinder. Dieses Buch bietet beides.

Frederik Weitz



Taschenbuch | Erschienen: 1. März 2008 | ISBN: 9783896706300 | Preis: 24,95 Euro | 272 Seiten | Sprache: Deutsch

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