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Er ist ein einzigartiges Phänomen in der Kriminalliteratur des 20. Jahrhunderts: Jules Maigret, seines Zeichens Kommissar der Pariser Kriminalpolizei und das literarische Kind des belgischen Schriftstellers Georges Simenon. Mit seinen 75 Romanen und mehr als zwanzig Erzählungen rund um den rau wirkenden Kriminalbeamten hat Simenon nichts Geringeres als den Inbegriff des Kommissars geschaffen, der bis heute in Literatur und Film Gültigkeit besitzt: Von kräftiger Statur, Hut und Regenmantel als Insignien des Schnüfflers, nicht selten einen mürrischen Gesichtsausdruck aufgesetzt und die Pfeife stets zwischen den Zähnen eingeklemmt, ermittelt Maigret durch sämtliche sozialen Schichten der französischen Bevölkerung, von den in den Pariser Ghettos lebenden Immigranten bis in die undurchsichtigen Reihen der Reichen und Schönen. Liebhabern des französischen Kommissars macht der Diogenes Verlag nun ein herrliches Geschenk: Der Schweizer Buchverlag bringt sämtliche 75 Maigret-Romane in chronologischer Reihenfolge und in revidierten Übersetzungen neu heraus. Seit April 2008 erwarten den Leser monatlich vier Fälle, mit September 2009 wird die Reihe voraussichtlich abgeschlossen sein.
Den editorisch vorzüglich choreographierten Reigen des Verlags eröffnet mit „Maigret und Pietr der Lette“ der erste namentlich gezeichnete Maigret-Roman von Simenon: Im Hauptquartier der Pariser Kriminalpolizei trifft die Nachricht von Interpol ein, dass Pietr der Lette, Kopf einer international operierenden Bande von Betrügern, der Metropole an der Seine einen Besuch abstattet. Der weltweit gesuchte Verbrecher ist schon mehrmals unter Arrest gestellt, doch aus Mangel an Beweisen stets wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Kommissar Maigret soll Pietr am Gare du Nord in Empfang nehmen, doch der Lette kann im Strom der ankommenden Reisenden untertauchen. Bevor der Kriminalbeamte die Verfolgung aufnehmen kann, wird eine Leiche in einem Abteil jenes Zuges entdeckt, mit welchem Pietr eingetroffen ist. Was Maigret stutzig macht: Der Tote weist eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Gesuchten auf. Um wen handelt es bei dem ermordeten Reisenden? Und hat Pietr etwas mit dem Mord zu tun? Dieser ist nach dem Vorfall wie vom Erdboden verschluckt – zusammen mit einem amerikanischen Milliardär, der in demselben Luxushotel abgestiegen ist wie der gesuchte Meisterbetrüger …
Maigrets erster Fall entstand im September 1929 in der holländischen Gemeinde Delfzijl, wo Georges Simonen mit seinem Kutter vor Anker lag. Im Nachwort der vorliegenden Ausgabe schildert der Autor die Entstehung der künftigen Kultfigur Maigret: Nach einigen Gläsern Genever manifestierte sich die massige Gestalt eines Pariser Kriminalkommissars mit einer Vorliebe für Bier und warme Kanonenöfen vor seinem geistigen Auge; zunächst noch unscharf im Aussehen und arm im Detail. Nicht einmal eine Woche später lag das komplette Manuskript zum ersten Maigret-Roman vor.
Diese rasante Arbeitsgeschwindigkeit überrascht nicht weiters, kennt man Simenons schriftstellerische Laufbahn: Vor der regelrecht zügigen und komplikationslosen Geburt seines Kommissars verdiente sich der Autor seinen Lebensunterhalt mit zahllosen Groschenromanen, die er unter Pseudonym veröffentlichte. Seine trivialliterarische Herkunft verleugnet Simenon in „Maigret und Pietr der Lette“ zu keiner Zeit: Stilistisch einfach gehalten, erweckt die Aneinanderreihung von zumeist knapp gehaltenen Aussagesätzen den Eindruck anspruchsloser Krimikost nach US-amerikanischem Vorbild; verschachtelte Satzkonstruktionen sind ebenso Mangelware wie üppige Ortsbeschreibungen, von wortgewaltigen Einblicken in die Gefühlswelt der Protagonisten gar nicht zu sprechen. Seichte Lektüre ohne größeren Unterhaltungsgewinn also?
Ganz im Gegenteil, allein der Ruhm, den Maigret und sein Schöpfer genießen, spricht Bände. Der bis heute andauernde Hype um den Sherlock Holmes von Paris – dieser immer wieder anzutreffende Vergleich dient lediglich dazu, um ein Bild von Maigrets Popularität zu vermitteln – ist keine aufgesetzte Mogelpackung, kein mittelprächtiges Mitschwimmen im Fahrtwasser kriminalliterarischer Luxusyachten – die Lorbeeren sind echt. Eine der größten Leistungen Simenons ist es hierbei, den Spagat zwischen kriminalistischem Anspruch und seinen trivialliterarischen Lehrjahren zu schlagen und konsequent durchzuhalten. Der Autor verzichtet auf jegliche Elemente, die man ihm angesichts seiner Groschenromanvergangenheit zu unterstellen bereit wäre: Verfolgungsjagden durch die belebten Straßen von Paris sucht man ebenso vergebens wie wilde Schießereien. Gleichzeitig verzichtet Simenon fast vollständig auf ein wesentliches Element der Kriminalliteratur, nämlich die so genannten
red herrings – falsche Fährten. Für einen Krimi wirkt „Maigret und Pietr der Lette“ beinahe zu geradlinig.
Was sich wie ein Sakrileg an den ungeschriebenen Gesetzen des Kriminalromans anhört, ist das Geheimrezept hinter Maigrets Erfolg: Der Pariser Kriminalbeamte jagt mit seiner charakteristischen Beharrlichkeit den Mörder und vor allem das Motiv hinter der Tat. Simenon legt den Fokus weniger auf das „Wer“ als vielmehr auf das „Wieso“ und bettet dieses auch in Milieuschilderungen des Paris der ausklingenden Zwanziger Jahre und in Zeichnungen der persönlichen Hintergründe von Opfer und Täter ein. Hierbei erweist sich der schon angesprochene schlichte Stil als glänzender Mitspieler: Simenon verzichtet auf ellenlange Personen- oder Ortschilderungen und versteht es dennoch, in wenigen unkompliziert gehaltenen Sätzen ein atmosphärisch dichtes Bild der jeweiligen Situation zu zeichnen – auch unter Verzicht falscher Fährten und reißerischer Actioneinlagen. Und wer Zweifel hat, dass ein
Whodunit nach diesem Konzept funktioniert, der hat noch keinen Maigret-Roman gelesen. Einziger Wermutstropfen: Die Figur Maigret wirkt über weite Strecken noch unscharf und skizziert, erst die Folgebände werfen mehr Licht auf seine Persönlichkeit.
Dem positiven Beigeschmack des Gesamtwerkes von Georges Simenon wird die neue Edition durch den Diogenes Verlag mehr als gerecht: Die schlicht gehaltenen, aber schmucken weißen Pappbänden machen sich elegant im Bücherregal, Vor- und Nachsatz eines jeden Bandes der Reihe enthalten eine Karte von Paris. Die gute Papierqualität und ein rotes Lesebändchen runden den eleganten Gesamteindruck ab, der galante Preis macht den Griff ins Portemonnaie zu einer schmerzfreien Investition in die eigene Hausbibliothek.
Ein spannender Auftakt zu einer Romanreihe, die Geschichte schrieb. Der erste Streich aus der Feder Georges Simenons mag ein noch nicht vollkommen ausgereiftes Bild des mürrisch wirkenden Kommissars vermitteln, doch enthält „Maigret und Pietr der Lette“ schon nahezu alles, was einen echten Maigret-Roman ausmacht. Die Suche nach guter Urlaubslektüre hat somit ein Ende, der Verlag präsentiert mit dem ersten Krimi um den Sherlock Holmes von Paris leichte und zugleich anspruchsvolle Unterhaltung. Und wer bislang noch nicht die Bekanntschaft mit Jules Maigret gemacht hat: Die neue Werkausgabe aus dem Hause Diogenes ist eine Einladung auf kriminalistische Unterhaltungskost, die schmeckt.