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Auch in Eliot Pattisons neuestem Werk „Der tibetische Verräter“ ermittelt wieder Shan Tao Yun, der chinesische Ex-Beamte, der in China in Ungnade fiel, jahrelange Folter in einem tibetischen Gulag überlebte und sich dann in Tibet niederließ.
Diesmal ist Shan im Schatten des Mount Everest, des „Chomolungma“, unterwegs. Als mehr oder weniger akzeptiertes Mitglied einer Dorfgemeinschaft, als Flüchtiger ohne Papiere birgt er die Leichen derjenigen Bergsteiger und Sherpas, die auf dem achttausend Meter hohen Berg ihr Leben ließen. Doch in diesem Jahr scheint die „Mutter des Universums“, wie die Tibeter den Berg ehrfürchtig bezeichnen, besonders erzürnt zu sein. Im Gebirge wird ein Hinterhalt auf einen Bus verübt, der voller gefangener tibetischer Mönche ist – diesen gelingt zwar die Flucht, doch der Anschlag lenkt die Aufmerksamkeit der gefürchteten chinesischen Behörde auf die Einwohner der Region. Zeitgleich findet Shan auf dem Berg die Leichen zweier Frauen, die offensichtlich ermordet wurden – die eine ist eine hochrangige chinesische Ministerin, die andere anscheinend eine Ausländerin. Doch Shan kann sich nicht mit diesem Rätsel befassen, denn sein derzeit dringlichstes Ziel ist es, seinen Sohn Ko aus der gefürchteten „Yeti-Fabrik“, einer psychiatrischen Anstalt für politische Gefangene, zu retten. Aber dann wird ausgerechnet der einzige Mann, der Shan bei der Befreiung seines Sohnes helfen kann, verhaftet und des Mordes an der chinesischen Ministerin angeklagt. Shan läuft die Zeit davon – er muss die Wahrheit ans Licht bringen, um die Morde aufzuklären und seinen Sohn zu retten …
Auch im sechsten Band seiner Inspektor-Shan-Krimis gibt Eliot Pattison wieder tiefe Einblicke in die Kultur und die Geschichte Tibets und zeichnet ein aktuelles Bild der Menschen, die in dem von China okkupierten Land leben. Diesmal muss Shan ohne seine beiden Freunde, den Mönch Lokesh und den Lama Gendun, auskommen und ist auf sich allein gestellt. Wie so oft gerät er direkt am Anfang in die Mühlen der chinesischen Justiz und wird der Ermordung der chinesischen Tourismusministerin bezichtigt – doch diesmal kann Shan nicht durch seine Redegewandtheit entkommen. Die Folterszenen, die nun folgen, sind zwar nicht ausufernd, gehen aber trotzdem furchtbar unter die Haut, weil vor allem Shans Gedanken und Gefühle offengelegt werden. Solche Schilderungen lassen den Leser fast nicht glauben, dass dieses Buch im Jahr 2009 spielt. Erst vor relativ kurzer Zeit, nämlich im März 2008, gab es einen tibetischen Aufstand, bei dem sich zahlreiche buddhistische Mönche in Lhasa in friedlichen Demonstrationen gegen die chinesische Regierung auflehnten, wobei mindestens achtzig Menschen eines gewaltsamen Todes starben. Diese Aufstände sind nicht Gegenstand von Pattisons neuestem Roman, sie geben aber den ungefähren Zeitrahmen vor und machen dem Leser deutlich, dass die Unterdrückung Tibets auch über dreißig Jahre nach der chinesischen Kulturrevolution immer noch stattfindet, und zwar – vorausgesetzt, dass Pattisons Schilderungen authentisch sind – in einem Maße, das jeden westlichen Leser nur empören kann. In einer der ergreifendsten Szenen im Buch schildert der Autor, wie ein uraltes buddhistisches Kloster mit Bulldozern niedergewalzt wird, wie religiöse Gegenstände von unschätzbarem Wert zerstört werden, so dass es einem, ähnlich wie Shan, fast die Tränen in die Augen treibt. Pattisons Roman ist aber kein plumpes Plädoyer „Freiheit für Tibet“. Im Nachwort schreibt der Autor entsprechend:
„In allen meinen Shan-Romanen habe ich besonderes Augenmerk darauf gelegt, das politische und soziale Elend der Tibeter nicht zu überzeichnen.“ Nichtsdestotrotz ist die Aussage deutlich.
Eliot Pattisons Krimis sind keine klassischen Ermittlergeschichten, vielmehr stehen die Menschen und ihre Lebensweise im Vordergrund. Natürlich leistet Shan wieder eine Menge Ermittlungsarbeit und brilliert durch seine genialen Schlussfolgerungen, doch wer eine klassische „Wer hat den Mord begangen?“-Story sucht, der liegt hier falsch. Pattison macht es dem Leser oft nicht gerade einfach, man muss sich ziemlich konzentrieren und vieles wirkt fremd und sperrig, so dass man nicht auf den ersten Blick begreift, worauf der Autor hinauswill. Ohnehin kommt wieder sehr vieles zusammen und auch Shan steht nicht bloß vor einem Rätsel: Da werden religiöse Statuen gestohlen und tauchen wieder auf, verschwindet Bergsteigerausrüstung, benimmt sich ein amerikanischer Tourist sehr merkwürdig und bereitet ein ehemaliger Lama Probleme. Man muss auch bereit sein, die tibetische Lebensweise quasi als Leser für sich zu akzeptieren - wenn im Roman ein Mann als Maultier reinkarniert wird, und zwar tatsächlich, dann ist das eben so.
„Der tibetische Verräter“ ist eine gelungene Fortführung der Reihe um Shan Tao Yun, die kritisch die Lage im heutigen Tibet beleuchtet und diese quasi als Rahmenhandlung für einen spannenden Kriminalfall nutzt, der, wie man von Pattison schon gewohnt ist, in einem sehr starken, stimmigen Ende mündet. Pattisons Tibet-Krimis sind nicht nur originell und gut geschrieben, sondern auch politisch und herausfordernd – ein packendes Lesevergnügen für alle, die mehr über fremde Kulturen und andere Lebenswelten erfahren wollen!