Die Krise der deutschen Sozialdemokratie wird ja seit einigen Jahren exzessiv in der Presse behandelt; kein Tag vergeht, an dem nicht ein Journalist auf die am Boden liegende Partei - die immerhin älteste und traditionsreichste Deutschlands - tritt und ihre zumeist hausgemachten Probleme offenlegt. Dass dies so ist und dass die SPD in der öffentlichen Wahrnehmung so übel gelitten ist, hat natürlich viele Gründe; einer aber ist sicher auch der Vorwurf, die SPD hätte ihre Wurzeln verraten und sich mit Hartz IV und den Rentengesetzen an der eigenen Klientel, der Arbeiter- und Arbeitnehmerschaft, den sogenannten "kleinen Leuten", schwer vergangen.
Es ist ein Vorwurf, den die SPD in ihrer langen Parteigeschichte schon öfters gehört hat. Seit den Richtungskämpfen zwischen Bebel und Lasalle toben in der SPD Flügelkämpfe, schwankt die Partei zwischen revolutionärem Anspruch und staatstragendem Konservatismus, und nicht selten führte dieser Widerspruch zu Spaltungen und erbitterten Feindschaften. Nach der Katastrophe des 1. Weltkriegs, als das kriegstreiberische Kaiserreich von revoltierenden Soldaten und Matrosen hinweggefegt wurde und die SPD an die Macht gelangte, fand sie sich bald in einer Zwickmühle wieder: Das monarchistische und reaktionäre Lager schob der SPD den böswilligen "Dolchstoß" unter, um den misslungenen Griff nach der Weltmacht zu kaschieren, während das sozialistische und kommunistische Lager der SPD zu Recht den Vorwurf machte, sie habe aus Machtwillen die Revolution verraten und sich unter Gustav Noske sogar am weißen Terror beteiligt: "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten". Seitdem wird die SPD den Ruch des Verrats an der Sache nicht los, und so lassen sich an zahlreichen Wegmarken der Parteigeschichte immer wieder Passagen ausmachen, an denen der Verrat zur Bruch- und Prüfstelle sozialdemokratischer Politik und Lebenswirklichkeit wurde.
Nicht allein die "Verratsgeschichte" der SPD, sondern jene der gesamten Arbeiterbewegung hat der Sammelband "Verrat" im Blick, der dieser Tage im linken Dietzverlag erschienenen ist. In fast dreißig Beiträgen setzen sich zahlreiche Historiker mit der Frage auseinander, welche Bedeutung der Verrat in der Arbeiterbewegung hat und wie er zu einer Traumatisierung der Arbeiterbewegung führte. Das Themenspektrum reicht dabei von dem Konflikt um den Burgfrieden anno 1914, als die SPD sich in die Front der kriegsbefürwortenden Parteien einreihte und damit in den Augen ihres linken Flügels die sozialistische Internationale verriet, über die verschiedenen Verratsvorwürfe während der Novemberrevolution bis zu den Krisenjahren nach Hitlers Machtantritt, als die Gestapo Arbeiterkreise unterwanderte beziehungsweise einzelne Funktionäre zu Verrätern wurden. Auch in der DDR, als sich KPD und SPD zwangsvereinigten, hörte der "Verrat" nicht auf, wurde diesmal aber vor allem als aus der Luft gegriffener Vorwurf verwendet, um unliebsame Parteigenossen auszubooten, ja in einigen Fällen physisch zu vernichten ... nicht selten überzeugte Kommunisten, die der Moskauer Linie nicht folgen wollten. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit Verratsvorwürfen in den kommunistrischen Bewegungen Frankreichs und der UdSSR sowie mit sozialistischen Renegaten.
Hervorgegangen ist der Sammelband aus mehreren Tagungen, die zwischen 2002 und 2005 von der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Linkspartei) veranstaltet wurden. Die einzelnen Beiträge arbeiten das Thema gut heraus, auch wenn sie teilweise sehr spezielle historische Ausschnitte behandeln. Leider fehlt dem Buch ein roter Faden oder eine Klammer; zwar haben mit Jürgen Hofmann und Ulla Plener zwei Historiker eine kurze Einführung und ein Schlusskapitel geschrieben, doch diese Artikel werden ihren Aufgaben - nämlich die Themenhinleitung und die ordnende Zusammenfassung - nicht gerecht. So bleibt der Band eine Ansammlung interessanter Spezialartikel, die allesamt den Begriff des Verrats in der Arbeiterbewegung umkreisen, der aber leider keine neue Forschungsperspektive aufmacht und entwickelt.
Abgesehen von diesem Manko ist das Buch jedoch empfehelnswert und für jene Leser, die sich für die Arbeiterbewegung interessieren, ein Gewinn.