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 Frank Gaudlitz: Casa mare

Autoren: Matthias Flügge, Karl-Markus Gauß
Illustratoren: Frank Gaudlitz
Übersetzer: Tim Nevill
Verlag: Hatje Cantz

Cover
Gesamt ++++-
Anspruch
Aufmachung
Bildqualität
Preis - Leistungs - Verhältnis
Der Fotograf Frank Gaudlitz setzt sich seit vielen Jahren intensiv mit dem östlichen Europa und seinen Menschen auseinander. Sehr bekannt wurde in diesem Zusammenhang sein Projekt "Warten auf Europa", das er fortsetzt mit dem hier besprochenen Band "Casa mare". Hierzu hat er im südlichen und mittleren Osteuropa Provinzen aufgesucht, die sich durch eine bewegte Geschichte und bunt gemischte Ethnien auszeichnen: die so genannte Schwäbische Türkei im Süden Ungarns, die serbische Vojvodina, die Gebiete Siebenbürgen, Dobrudscha und Marmarosch in Rumänien und Bessarabien in der Republik Moldau.

"Casa mare" bedeutet auf Rumänisch "gute Stube", und die von Gaudlitz präsentierten Fotos sind alles andere als Schnappschüsse oder Momentaufnahmen; seine Modelle stellten sich ihm in ihren Festtagskleidern, doch nicht in Tracht, in ihrem besten Zimmer.
Es sind ganz unterschiedliche Menschen aus den genannten Regionen, denen der Betrachter des Buchs in die Augen und in die erwähnte gute Stube blickt: alte und junge, betuchtere und vermutlich auch nach Landesmaßstab arme, Frauen, Männer und Kinder, ethnische Rumänen, Ungarn, Slowaken, Deutsche und andere als Angehörige von Minderheiten in den genannten Ländern und natürlich Roma, die im südöstlichen Europa traditionell einen relativ großen Bevölkerungsanteil stellen. Einige Fotos zeigen auch lediglich einen charakteristischen Ausschnitt aus einer "casa mare".
Zwei Essays bieten dem Leser und Betrachter wichtige Hilfen zum Verständnis der Fotos beziehungsweise der portraitierten Regionen: "Die unaufhörliche Wanderung. Europa im Kleinen" von Karl-Markus Gauß und "Identität, was ist das? Oder: Über die Moral der Fotografie" von Matthias Flügge. Eine Landkarte der von Gaudlitz bereisten Länder schließt sich an den zweiten Essay an, gefolgt von einem Katalog der Fotos mit Angaben zu Name, Alter, ethnischer Zugehörigkeit und Wohnort der Fotografierten sowie dem Jahr der Aufnahme. Alle Texte liegen auf Deutsch und auf Englisch vor.

Was will dieses Buch, was sollen die Aufnahmen von mehr oder weniger zufällig herausgegriffenen Menschen aus den Grenzregionen der EU und darüber hinaus dem Betrachtenden vermitteln? Die Essays geben ausgezeichnete Denkanstöße, doch der Betrachter selbst spürt rasch, worauf Gaudlitz abzielt. Mag der Westeuropäer, der das Buch ansieht, zunächst vor allem bestürzt über die Ärmlichkeit und gefesselt von der halben Exotik der dargestellten guten Stuben sein und die so unterschiedlichen Personen eher mitleidig zur Kenntnis nehmen, so ändert sich dieser Eindruck rasch, wenn man sich eingehend mit den Fotografien befasst.
Ernst blicken sie in die Kamera, Greise, Kinder, junge Erwachsene, Menschen in der Lebensmitte. Sie haben sich für den Fotografen und somit auch für den Betrachter herausgeputzt und lassen ihn teilhaben an ihrer Privatsphäre – Zimmer, die unterschiedlicher nicht sein könnten, einfach ausgestattet, oft mit Schlafcouch, schlichte Wohnküchen, farbenfroh verputzte oder mit üppig gemusterten Tapeten versehene Wände, an denen Wandteppiche, Fotos, Jagdtrophäen, Heiligenbilder oder sonstige Accessoires hängen, bisweilen aber auch im westeuropäischen Sinne schicke Wohnungen.
Das Mitleid weicht rasch einer Begegnung auf Augenhöhe, denn die Portraitierten posieren gelassen und selbstbewusst in ihrem ganz persönlichen Interieur.
Und genau das möchte Gaudlitz offensichtlich vermitteln, wie auch die ausgesprochen lesenswerten Essays nahelegen: Man muss diese scheinbar rückständigen Gebiete mit ihren lebendigen, farbenfrohen Ethnien nicht nach Europa holen – sie sind seit Jahrhunderten ein sehr lebendiger Teil davon und dies heute vielleicht noch wesentlich mehr als die Westeuropäer, die etwas hilflos nach ihrer Identität suchen.
Ein ganz wunderbares Buch; der ein oder andere Leser freilich würde sich noch ein paar Informationen zu den Portraitierten wünschen, etwa deren Beruf und Familienstand oder auch in Bezug auf ihre Städte: Wovon lebt man dort? Diese in sich ruhenden Persönlichkeiten möchte man auch anhand von Fakten näher kennenlernen, auch wenn dies wohl der Intention des Fotografen widerspricht.
Die Ausstattung des Buchs lässt nichts zu wünschen übrig, ebenso die Qualität der Wiedergabe der Fotos in angemessen großem Format. Bilder und Essays bieten Einblicke in ein kostbares Stück Europa und in die privaten Räume einiger seiner Bewohner.

Regina Károlyi



Hardcover | Erschienen: 30. November 2009 | ISBN: 9783775724920 | Preis: 35,00 Euro | 173 Seiten

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