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"Es war einmal ein Junge. Es war einmal ein Junge, der liebte ein Mädchen, und ihr Lachen war eine Frage, mit deren Beantwortung er sein ganzes Leben verbringen wollte."Diese simplen Zeilen, die doch so unendlich viel aussagen, schreibt Leopold Gursky für das Mädchen, dem er ewige Liebe versprochen hatte. Ein ganzes Buch schrieb Leo ihr einst im polnischen Slonim, doch Alma wurde im Zweiten Weltkrieg von ihrem Vater ins ferne Amerika geschickt, und der damals 20-jährige Leo sah sie lange Zeit nicht wieder. Später erst erfuhr er, dass er einen Sohn hat, denn Alma war zur Zeit der Überfahrt in die USA schwanger von ihm. Das Mädchen, dem Leo ewige Liebe schwor, hat letztendlich einen anderen geheiratet, und Leos Sohn Isaak weiß nichts von seinem leiblichen Vater.
Inzwischen ist Leo alt geworden, sehr alt. Sechzig Jahre sind vergangen, seit Leo "Die Geschichte der Liebe" geschrieben hat. Täglich fragt er sich, wann sein letzter Tag anbricht und wer ihn wohl als letzter Mensch lebend sehen wird. Damit ihm nicht das gleiche Schicksal widerfährt wie den vielen Alten, die einsam sterben und erst nach Wochen in ihrer Wohnung gefunden werden, bemüht Leo sich gesehen zu werden. Jeden Tag geht er in verschiedene Läden, probiert Schuhe an, die er nicht kaufen will, oder lässt an der Supermarktkasse absichtlich Sachen fallen - nur um ja bemerkt und gesehen zu werden. Auch Leos Sandkastenfreund Bruno, der in einer kleinen Wohnung über Leo wohnt, ist alt. Die beiden passen aufeinander auf, und wenn Bruno länger nichts von Leo gehört hat, klopft er mit einem Stock so lange an die Heizungsrohre des Mietshauses, bis Leo Antwort gibt: "Lebst du noch?" - "Ja."
Dass das vor langer Zeit verfasste Manuskript von "Die Geschichte der Liebe" ebenfalls alt geworden ist, dass es die vielen Jahrzehnte und sogar den Holocaust überlebt hat, das weiß Leo nicht. Und doch: Das Buch existiert noch und nimmt still und leise Einfluss auf das Leben anderer Menschen. Auch die 14-jährige Alma Singer ist mit der Geschichte der Liebe verbunden, wenn auch auf andere Art und Weise: sie wurde nach der Hauptfigur des Romans benannt. Obwohl Almas Leben nicht einfach ist - sie muss zum Beispiel auf ihren kleinen Bruder Bird aufpassen, der glaubt, der Messias zu sein und nebenbei ihre Mutter verkuppeln - bricht das Mädchen auf, um den Autor zu finden, der ihre Namensschwester erfunden hat. Und "Die Geschichte der Liebe" findet unter mysteriösen Umständen ihren Weg zurück zu ihrem Verfasser.
Der Roman "Die Geschichte der Liebe" von Nicole Krauss ist hoch gelobt worden. Es handelt sich um das zweite Werk der Autorin nach ihrem Debütroman "Man walks into a Room". Die Kritiker haben Recht: "Die Geschichte der Liebe" ist leise und humorvoll, ironisch und verrückt, zärtlich und wunderbar. Eine große Portion Tragik ist auch dabei, handelt dieses Werk doch vom Leben, wie es wirklich ist, mitsamt den vielen Verlusten und der Trauer, die jeder Mensch irgendwann einmal durchlebt.
Man kann kaum fassen, dass die Autorin dieses weit ausholenden Werks erst Anfang Dreißig ist, weil sie so viele Generationen, Charaktere und Jahre einbringt und sie spielerisch verknüpft - ganz so, als hätte sie ebenso viel Lebenserfahrung wie ihr lebensmüder Protagonist Leo Gursky, den man als Zuhörer schnell lieb gewinnt.
Diese Rezension bezieht sich auf das Hörbuch aus dem Argon Verlag. Es umfasst insgesamt acht CDs und stellt mit 574 Minuten Laufzeit eine ungekürzte Lesung der Romanvorlage da. Die schlichte, aber geschmackvolle Aufmachung - die acht CDs sind in Papierhüllen in einer Schachtel untergebracht - unterstreicht die Schönheit und Ernsthaftigkeit des Romans. Dieter Mann als Sprecher macht seine Sache ausgezeichnet. Alsbald sehnt sich der Zuhörer nach seiner bedächtigen Stimme und dem immer wiederkehrenden, zögerlich eingeworfenen Satz "Und doch ...", den Leo Gursky häufig gebraucht und der große und kleine Wendungen in der Geschichte einleitet.
Die Geschichten von Leo Gursky und Alma Singer werden parallel erzählt. Da beim Hörbuch die visuelle Unterteilung einzelner Kapitel, wie man sie in einem Roman hat, fehlt, muss man als Hörer aufpassen: Alma und Leo erzählen beide aus der Ich-Perspektive, und da Dieter Mann beide Erzählstränge liest und zwischen den einzelnen Teilen keine nennenswerten Pausen einlegt, kann man den Übergang von Leo zu Alma unter Umständen versäumen. Später kommt noch Almas kleiner Bruder Bird hinzu, der ebenfalls aus der Ich-Perspektive erzählt. Anfangs ist die Geschichte recht komplex - man versteht nicht genau, wie die einzelnen Figuren miteinander verbunden sind und welche Rolle das merkwürdige Manuskript spielt, das sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte zieht. Eigentlich begreift man die Zusammenhänge erst wirklich nach der vierten CD, vorher bleibt vieles noch geheimnisvoll und unklar. Die Handlung wird nicht schnurgerade verfolgt; Krauss schweift immer wieder ab, bringt einzelne Kapitel der "Geschichte der Liebe" ein, erzählt von Almas Kindheit und von Leos Erlebnissen in Polen.
Fazit: Das Hörbuch zu "Die Geschichte der Liebe" ist sehr zu empfehlen, sicherlich nicht nur für Fans des Genres. Mit Dieter Mann wurde ein Sprecher gewählt, der perfekt zu der Geschichte passt, vor allem als Stimme von Leo Gursky ist er herausragend. Leicht irritierend bleibt zunächst, dass auch die Sicht der jungen Alma und ihres kleinen Bruders Bird mit dieser Stimme gelesen wird, weil Mann eben eine (sympathische) "Alt-Männer-Stimme" hat - man findet sich aber schnell ein.
Eine spannende, anspruchsvolle und oftmals auch rührende Geschichte mit leisem Humor, sprachlich sehr schön und voller erstaunlicher Wendungen.