Jerusha KiTenaro ist auf dem besten Wege, eine der erfolgreichsten Steinmetzinnen zu werden. Sie zeigt großes Talent und hat viel Spaß an ihrer Arbeit. Auch privat geht es ihr gut, sie ist verliebt in den Spiegelmacher Dario und die beiden wollen aus ihrer Verlobung bald eine Heirat werden lassen. Doch bevor es dazu kommen kann, vertraut die Großmutter der zwanzigjährigen Jerusha das Geheimnis der Familie an. Die weiblichen Familienmitglieder der KiTenaros sind dazu verflucht, den Menschen, den sie am meisten lieben, zu verraten. Das Wissen um dieses Schicksal lastet schwer auf Jerusha und sie will sich dem unbedingt entgegenstellen. Deswegen lässt sie Dario und ihre Arbeit hinter sich und begibt sich auf die Suche nach dem Ursprung des Fluches. Doch schnell muss sie erkennen, dass sie nicht einfach zu demjenigen gehen kann, der ihn ausgesprochen hat, um ihm zu sagen, er soll gefälligst alles wieder in Ordnung bringen. Ganz im Gegenteil steht ihr eine beschwerliche Reise mit großen Abenteuern und einem ungewissen Ziel bevor.

Auf ihrem Weg trifft sie auf Kiéran. Gemeinsam gehen sie einen Teil ihres Weges und trennen sich danach wieder. Doch der Kämpfer geht Jerusha nicht mehr aus dem Kopf und auch Kiéran verbindet etwas mit der jungen Frau. Dabei kann er sie nicht einmal so sehen, wie er es noch vor gar nicht allzu langer Zeit hätte tun können, denn Kiéran ist im Kampf verwundet worden und erblindet. Allerdings hat man ihm im Tempel der Schwarzen Spiegel helfen können. Dank der Mönche, die dort leben, kann er nun auf eine andere, magische Art Dinge wahrnehmen. Diese beiden so verschiedenen Menschen treffen nun aufeinander und lernen sich lieben. Doch um wirklich glücklich werden zu können, steht Jerusha natürlich der Fluch im Weg. Ihr Kampf um die Unabhängigkeit und das Recht, ihr Leben so zu leben, wie sie will, geht also weiter.

Unter dem Namen Katja Brandis hat die Autorin Siri Lindberg bereits zahlreiche Fantasy-Romane veröffentlicht. Mit "Nachtlilien" setzt sie ihren Weg als eine Erzählerin, die eher die leiseren Töne anschlägt, gekonnt fort. Ihrer Geschichte mangelt es nicht an Abwechslung, Spannung und Abenteuer, aber es ist eben keine, bei der man von einer Schlacht in die nächste zieht und gar nicht zum Durchatmen kommt. Ganz im Gegenteil lässt sie sich sehr viel Zeit, um dem Leser die Protagonisten vorzustellen, so dass man sehr gut in ihre Welt eintauchen und mit ihnen fühlen kann. Lesern, die Katja Brandis Daresh-Trilogie gelesen haben, wird das Prinzip der einzelnen Clans bekannt vorkommen, welches dort in einer ähnlichen Form bereits in Erscheinung trat. Trotzdem ist diese Erzählung komplett eigenständig.

Seinen besonderen Reiz entwickelt der Roman durch seine Vielfältigkeit. Jerusha und Kiéran sind auf einer langen Reise und entdecken immer neue Gegenden. Diese sind natürlich von unterschiedlichsten Wesen bevölkert. Es macht unglaublichen Spaß immer wieder etwas Neues in dieser komplexen Welt zu entdecken.

"Nachtlinien" ist romantische Fantasy. Die Beziehung zwischen Kiéran und Jerusha nimmt einen großen Raum ein und steht deutlich als zentrales Thema im Mittelpunkt, auch wenn die beiden erst im zweiten Teil wirklich zueinander finden. Zum Glück ist es Siri Lindberg aber gelungen, keine "schmalzige" Liebesgeschichte zu schreiben, wie man sie gerade in aktuellen Fantasybüchern zuhauf findet, sondern sie schildert die zarten, aber festen Bande, die zwischen zwei Menschen entstehen, auf realistische und glaubhafte Weise. Dazu kommt der Kampf um ein freies und selbstbestimmtes Leben.

Sehr zu loben ist, dass der Piper-Verlag sich dafür entschieden hat, den Roman nicht etwa als Trilogie zu veröffentlichen (schließlich besteht er aus drei Teilen), sondern als kompletten Roman. Die Schrift füllt die Seiten dicht aus, so dass man hier zu einem guten Preis eine lange Fantasygeschichte geboten bekommt, in die man für lange Zeit eintauchen kann. Das Ende wurde übrigens so gestaltet, dass es durchaus Raum für eine Fortsetzung lässt, auch wenn es in sich komplett abgeschlossen ist. Und es gibt sicher nicht wenige Leser, die sich nach dem Umblättern der letzten Seite wünschen würden, dass diese bewegende Geschichte noch weitergeht ...