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Im Jahr 2010 titelte das amerikanische Time-Magazine mit dem Bild eines jungen Mädchens mit Kopftuch, dem die Nase und die Ohren abgeschnitten worden waren. Das Foto der 18-jährigen Afghanin Bibi Aisha, die laut Medienberichten von Taliban-Kämpfern verstümmelt worden war, ging um die Welt, die sich gerade im Zwiespalt darüber befand, ob man die US-Truppen aus Afghanistan abziehen oder besser dort stationiert lassen sollte.
Das Foto ist von seiner schlichten Aussage her grauenhaft, sehr intim und provokant zugleich, weil die junge Frau scheinbar ohne Regung direkt in die Kamera blickt, ohne die Entstellung zu verbergen. Die aufrüttelnde Aufnahme von Fotografin Jodi Bieber gewann den World Press Award 2011 – eine Auszeichnung für die besten und beeindruckendsten Fotos von Journalisten aus aller Welt – und stellt damit auch das Cover des Sammelbandes "World Press Photo 2011", erschienen bei Benteli, dar.
Für diesen Fotoband wählte die Jury aus insgesamt 108.059 Einsendungen die 171 besten Bilder aus. Sie sind nach den Award-Kategorien angeordnet: Porträts, Menschen in den Schlagzeilen, Reportagen, Harte Fakten, Aktuelle Themen, Alltagsleben, Natur, Kunst und Kultur, Sport. Prämiert wurden sowohl Einzelfotos als auch Serien; jedes Bild beziehungsweise jede Bildserie ist mit einem knappen, informativen Text versehen, der die Entstehungssituation, den Zeitpunkt und das Gezeigte kurz erläutert.
Nicht alle Bilder machen so sprachlos wie das beschriebene Cover-Foto, aber genau wie der
World Press Photo-Band 2010 zeigt auch dieser Band wieder die zahllosen Schattenseiten menschlichen Lebens – und Sterbens. Die Fotografen haben die verheerenden Überflutungen in Pakistan im Juli 2010 ebenso eingefangen wie die Leichen von Opfern des Vulkanausbruchs auf Mittel-Java im Oktober gleichen Jahres, die, erstarrt unter einer grauen Ascheschicht, wie die Toten von Pompeji wirken.
Die Bilder zeigen, äußerst surreal wirkend, den abgeschnittenen Kopf eines Mannes, der von mexikanischen Drogenbanden ermordet wurde, und die zahlreichen Toten des Erdbebens auf Haiti. Das Foto eines Katastrophenhelfers, der dort ein totes Kind mit Schwung auf einen Haufen weiterer Leichen wirft, hat sich sicherlich vielen Zeitungslesern ins Gehirn gebrannt. Eine Fotoserie zeigt in verstörenden Eindrücken die Abtreibungspraxis in Kenia, die für die betroffenen Frauen nicht selten mit dem Tod endet.
Auch ein tragisches deutsches Ereignis hat es in den Band "geschafft" – eine Fotografie von Uwe Weber zeigt die in den Menschenmassen eingequetschten Besucher der Duisburger Loveparade, bei der 21 Menschen ums Leben kamen. Für sich allein und in einem Fotoband aufgereiht, wirken solche Fotos teilweise voyeuristisch und unangemessen brutal, allerdings muss man sich vor Augen führen, dass die Fotografen einfach nur reale Momente festhalten und ungeschönt dokumentieren. Ob das Loveparade-Bild der in Panik geratenen Besucher ein wichtiges Zeitzeugnis für die Welt ist oder ob er Fotos von nackten Häftlingen im überfüllten Gefängnis von Sierra Leone sehen möchte, muss der Betrachter letztendlich selbst entscheiden. Außer Frage steht auch, dass man die Bilder trotz ihrer emotionalen Inhalte mit einer gewissen Distanz betrachten sollte, denn ohne Zweifel werden manche von ihnen - wie das berühmte Titel-Foto - ganz gezielt eingesetzt.
Natürlich sind nicht alle Fotos im Buch schockierend oder grausam. Viele halten einfach besondere Momente fest, die uns für 2010 im Gedächtnis geblieben sind: Der nordkoreanische Diktator Kim Jong-il wirft seinem Sohn und Nachfolger Kim Jong-un einen scheinbar skeptischen Blick zu. Wikileaks-Gründer Julian Assange verlässt eine Podiumsdiskussion. Die Kinder irischer Landfahrer, auch Tinker genannt, blicken in ihren traditionellen, grellbunten Kostümen - für deutsche Betrachter ziemlich irritierend - in die Kamera. Couchsurfer chillen ganz entspannt in der chaotischen Wohnung ihres Gastgebers, und eine Kongolesin sitzt mit ihrem Cello auf der Straße und übt.
"World Press Photo 2011" ist auf jeden Fall einen Blick wert. Die festgehaltenen Augenblicke sind allesamt faszinierend – viele sind schrecklich, andere rührend oder einfach schön. Insgesamt überwiegen jedoch im 2011er-Band die gewalttätigen oder von Armut, Leid und Krieg geprägten Szenerien, die Fotojournalisten für die Nachwelt festgehalten haben. Ein teils verstörender, teils beeindruckender, teils sehr ästhetischer Abriss des Jahres 2010, festgehalten in spektakulären Fotos.