Das Sprengel Museum Hannover kann auf eine lange Geschichte hinsichtlich der Präsentation von Fotografien zurückblicken. Ein Erweiterungsbau wird dem Medium Fotografie eine noch stärkere Rolle im Museum ermöglichen; schön, dass dessen Einweihung eine gehaltvolle Fotoausstellung vorausgeht: PHOTOGRAPHY CALLING!
In der Ausstellung und somit auch im hier besprochenen Buch, das auch als Katalog zur Ausstellung fungiert, findet man Bilder der unterschiedlichsten Genres von dreißig Fotografen, darunter einige international weithin bekannte Größen, aber auch aufstrebende jüngere Fotografen. Diese Bilder haben lediglich gemeinsam, dass sie der "dokumentatorischen Fotografie" zugeschrieben werden, ein Begriff, dessen Bedeutung sich innerhalb der letzten Jahrzehnte enorm gewandelt hat.
Direkt an Grußworte und Vorwort schließen sich die Fotos der einzelnen Fotografen an; auf diesen Hauptteil des Buchs folgen Erläuterungen zum Werk der Fotografen, Angaben zu weiteren Fotoserien sowie Biografien und Bibliografien der Künstler.

Eine ganze Menge Buch hält der stolze Besitzer in der Hand, und es kann nicht nur durch Größe und Gewicht, sondern auch durch enormen Gehalt und Vielseitigkeit punkten.
Mit einer Reihe außergewöhnlicher und starker Einzel- und Gruppenportraits beginnt die Präsentation der Bilder; hier verblüffen unter anderem ein bis auf Hausschuhe nacktes reifes Ehepaar in seinem Wohnzimmer, ein riesenwüchsiger Mann mit seinen 'normal' großen Eltern und im Gegenzug ein kleinwüchsiger Mensch. Andere Fotografen zeigen Fotos aus dem amerikanischen Westen, Architektur- und andere strukturelle Details, außergewöhnliche Naturaufnahmen, Blumen, Stillleben und vieles andere; Portraits bilden die Mehrheit, dominieren jedoch nicht. Die Rezensentin ließ sich besonders von einer Serie der Fotografin Rineke Dijkstra beeindrucken, in der drei Aufnahmen von frisch entbundenen nackten Müttern mit ihren Neugeborenen aus dem Jahr 1994 je einem Foto des nun fast erwachsenen Kindes von 2010 gegenübergestellt werden; eine außergewöhnliche Idee. Diese subjektive Anmerkung soll jedoch das Lob der anderen Portfolios nicht schmälern. Unter anderem sticht auch Martin Parr mit seinen entlarvenden Aufnahmen hervor. Es fällt zudem auf, dass Schwarz-Weiß und Farbe einander gleichberechtigt gegenüberstehen.

Als sehr gelungen erscheint auch die gesamte Aufmachung. Titel, Ort und Entstehungsjahr der Bilder findet man gesammelt vor dem Ausschnitt aus dem Portfolio des jeweiligen Fotografen, so dass die Betrachtung nicht durch Texte gestört wird. Teils bedingt die Größe der Fotos den Umstand, ob sie allein auf einer Seite – und mit einem passenden Partner auf der gegenüberliegenden Seite, was keine Selbstverständlichkeit ist – präsentiert werden oder ob sich mehrere zusammengehörige Bilder einer Serie eine Seite oder Doppelseite; teils hängt dies mit der beabsichtigten Wirkung zusammen. Doch immer wirken die Doppelseiten stimmig, und die Fotografien können sich vor dem Auge entfalten.
Die Texte ergänzen die Fotos vorzüglich und fördern bisweilen das Verständnis. Meist aber sprechen die Bilder aus verschiedenen Jahrzehnten für sich und fesseln den Betrachter ganz spontan.
Ein spannender, vielseitiger Querschnitt, der stundenlangen Fotogenuss auf hohem Niveau bietet.