Gesamt |
|
Anspruch | |
Aufmachung | |
Bildqualität | |
Preis - Leistungs - Verhältnis | |
Nimmt man als Maßstab für den Erfolg eines Wissenschaftlers wie häufig er zitiert wird, ist Karl Marx der erfolgreichste Wissenschaftler der letzten 200 Jahre. Kein Denken wie das Marxsche hat so viele Anhänger und erbitterte Gegner gefunden. Dementsprechend viele Werke beschäftigen sich mit seinem Leben und seinem Denken. Eine Marx-Biographie ist dabei auch immer eine Lebensbeschreibung von Friedrich Engels. Die enge Verbindung zwischen den beiden Männern verhindert jede saubere Trennung ihrer beiden Viten. Der Schwerpunkt ist dabei aber immer eindeutig: Marx war das Genie, Engels steht in seinem Schatten.
Tristram Hunt hat nach langer Zeit mal wieder den Versuch unternommen eine Biographie über Engels zu schreiben, in der das Hauptgewicht auf Engels' Persönlichkeit und seinem Beitrag zum Marxismus das zentrale Motiv ist. In "Friedrich Engels: Der Mann, der den Marxismus erfand" spielt, wenn man so will, Marx die zweite Violine, wenn auch dabei zu keinem Zeitpunkt vergessen wird, dass er der philosophisch führende Kopf des Duos war. Da Engels es war, der sein Leben dem von Marx unterordnete, ist ein anderer Blick auf diese beiden Männer auch gar nicht möglich.
Hunts knapp 580-seitige Biographie erzählt in knapp zehn längeren Kapiteln das Leben Engels'. Geboren in eine wohlhabende Kaufmanns- und Industriellenfamilie in Barmen, die ihren protestantischen Glauben sehr ernst nahm, stieß Engels früh auf Widerstand. Bereits vor seiner ersten Begegnung mit Marx war er zum Linkshegelianer und Atheisten geworden. Hunt gibt diesem Abschnitt eine Menge Raum in seinem Buch und zeigt damit seine eigenständige philosophische und wissenschaftliche Entwicklung. Auf anderem Wege gelangte Engels zu einem ähnlichen Weltbild wie Marx, schon bevor sie ihre lebenslange gemeinsame Zusammenarbeit besiegelten. Das Ergebnis dieser Zeit ist vor allem Engels' erstes großes Werk "Die Lage der arbeitenden Klasse in England".
Die Zusammenarbeit begann in den 1840er Jahren als die beiden Männer erkannten, dass ihr Weltbild sich ähnelte und ihre Kenntnisse sich ergänzten. Engels beschloss sich dem als talentierteren geltenden Marx unterzuordnen und ihm die Arbeit an seiner philosophisch-ökonomischen Schrift, das Kapital, zu ermöglichen. Fast 20 Jahre arbeitete Engels, sich selbst und seine politische Arbeit zurückstellend, im Familienunternehmen in Manchester, um damit sich selbst, Marx und ihrer beider Familien zu finanzieren. Hunt nutzt diese Abschnitte um Engels' Opferbereitschaft zu illustrieren.
Die letzten Kapitel behandeln schließlich die Jahre nach Abschluss des Kapitals und nach Marx' Tod. Engels galt in diesen Jahren der anwachsenden Arbeiterbewegung, die in vielen Ländern den Marxismus als Parteiideologie angenommen hatte, als graue Eminenz und Hüter der Reinheit der marxschen Lehre. Es sind dies die Jahre, in denen Engels den "Marxismus erfand" und nicht zuletzt auch für die erfolgreiche Verbreitung seiner Lehren sorgte.
Das Buch endet mit einem umfangreichen Anhang, in dem sich ein Anmerkungsapparat findet sowie ein Register und Literaturverzeichnis. In der Mitte des Buches sind einige Photographien abgedruckt.
Tristram Hunts "Friedrich Engels: Der Mann, der den Marxismus erfand" ist in erster Linie eine großartig zu lesende Biographie. Hunts Schreibstil ist flüssig, sein erzählerischer Stil spannend. Ihm gelingt es problemlos Engels als eine eigenständige und facettenreiche Persönlichkeit darzustellen. Lob und Kritik sowohl an Engels' Charakter als auch an seiner Philosophie und Politik kommen dabei nicht zu kurz. Hunt ist ein meinungsstarker Autor, der zu klaren Bewertungen kommt.
Engels wird als ein Mensch voller Widersprüche dargestellt: wohlhabender Industrieller und Bourgeois und zugleich Revolutionär und Vorkämpfer für das Proletariat, im Dauerkonflikt mit seiner Familie und gleichzeitig in ihrem Unternehmen tätig und besorgt um Mutter und Schwester, eine starke Persönlichkeit und freiwillige Unterordnung unter Karl Marx. Auch fehlen nicht die Hinweise auf viele seiner Vorurteile, die aber nicht verhinderten, dass er in entscheidenden Situationen stets ein Feind von Kolonialismus und Unterstützer von Befreiungsbewegungen war.
Insgesamt wird Engels aber als sympathischer Lebemann dargestellt, was insbesondere durch die Kontrastierung zur Persönlichkeit von Marx entsteht. Engels war heiter, lebensfroh, freigiebig und voller Energie. Sonst hätte er die anstrengende Zusammenarbeit mit Marx wohl auch nicht ein halbes Leben durchgehalten. Hunt kommt so unterm Strich zu einem eher positiven Bild von Friedrich Engels.
Hervorzuheben ist allerdings wie der Autor es versteht das Leben und die Entwicklung seiner Figur mit den historischen, philosophischen, politischen und sozialen Entwicklungen seiner Zeit zu verknüpfen. So entsteht mosaikartig ein Gesamtbild des 19. Jahrhunderts. Der Leser wird eingeführt in hegelianische Philosophie, sozialistische Theorie, politische Ereignisgeschichte und die sozialen Konflikte der Industrialisierung. Friedrich Engels' Leben steht hier nicht nur für sich, sondern für eine ganze Zeit und eine der prägendsten Interpretationen dieser Zeit: dem Marxismus.
Vor diesem Hintergrund geht es Hunt auch besonders darum den wissenschaftlichen Anteil an der Entstehung des Marxismus herauszuarbeiten, welche Erkenntnisse, Ideen und Fakten er zu den gemeinsam verfassten Schriften beigetragen hat und mit welchen Kommentaren er die Popularisierung des Marxismus und damit das Bild dieser Weltanschauung in der breiten Öffentlichkeit geprägt hat.
Kritisch zu sehen ist an dieser Biographie allenfalls Hunts Hang zur lapidaren Erklärung. Ein Beispiel: In einer wenig produktiven Phase von Marx und Engels in den 1870er Jahren erklärt er ohne weitere Begründung, die Marx bewusst gewesene schwindende Überzeugungskraft des Kapitals zu einer Ursache ihrer kurzzeitigen Demoralisierung. Wie er auf diesen Gedanken kommt ist nicht nachvollziehbar, sodass der Leser hier nur Hunts antimarxistischen Standpunkt, den er an der ein oder anderen Stelle durchblicken lässt, als Grund dieser These vermuten kann.
Insgesamt aber hat Hunt eine fundierte und großartig zu lesende Biographie vorgelegt und damit auch eine Lücke in der Marx-Engels-Forschung erst einmal geschlossen. Auch wenn Engels nur die zweite Violine war, ohne ihn hätte es den Marxismus in dieser Form nicht gegeben und die Geschichte wäre anders verlaufen. Die Lektüre ist allen Interessierten sehr zu empfehlen!