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Sig, mit vollem Namen Sigma-fi-alpha-277, döst auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn ein und erwacht erst wieder an der Endstation. Um zurück zur richtigen Station zu fahren, muss er auf den gegenüber liegenden Bahnsteig gelangen. Der 13-jährige beschließt kurzerhand, die Gleise zu überqueren - ein verhängnisvoller Fehler, der Sigs ganzes Leben von Grund auf verändert und alles Bisherige in Frage stellt. Der Junge wird von einem Gleisreiniger erfasst und aufgelesen. Diese rasend schnellen Maschinen dienen dazu, Müll von den Gleisen aufzusammeln und für Ordnung in den Bahnhöfen zu sorgen.
Erst Kilometer weiter, weit außerhalb der schützenden Stadtmauern, wird Sig aus dem Gleisreiniger herausgeschleudert. Er landet in einer gigantischen Müllhalde, in einem ihm völlig unbekannten Bezirk. Sig hat die Stadt noch nie in seinem Leben verlassen. Kurz darauf teilt ihm sein Minicomputer, den er am Handgelenk trägt, mit, dass er sich auf verbotenem Gebiet befindet. Als Strafe dafür kündigt die gleichgültige Computerstimme seine sofortige Löschung an.
Wer vom allmächtigen Zentralcomputer, der die gigantische Stadt der Menschen kontrolliert, gelöscht wird, verliert nicht selbst nur sämtliche Erinnerungen, sondern er wird auch komplett aus dem Gedächtnis der Stadt gestrichen. Gelöschte Personen verschwinden aus der Erinnerung aller Menschen, die sie kannten und liebten - sie haben praktisch niemals existiert. Auf Verwirrung und Schock folgt Resignation: Sig ergibt sich in sein Schicksal und kauert sich hin, um auf seine Auslöschung zu warten und dem Recycling-Kreislauf zugeführt zu werden. Doch zunächst passiert nichts: Sig fühlt sich eigentlich immer noch wie er selbst. Zögernd rafft er sich auf und beschließt, die Umgebung zu erkunden. In die Stadt zurück kann er als gelöschte Person nicht - seine Eltern und Freunde wissen ohnehin nicht, dass er jemals existiert hat; sie vermissen ihn nicht.
Bald trifft Sig den merkwürdigen Einsiedler Pilaster, der älter ist als jeder Mensch, den Sig je gesehen hat, denn in der Stadt wird jeder Bürger an seinem fünfzigsten Geburtstag automatisch recycelt. Zudem ist Pilaster offensichtlich verrückt, redet wirres Zeug und verängstigt Sig durch seine Wildheit und Fremdartigkeit. Doch der alte Mann, der ebenso wie Sig durch einen Zufall von der Stadt ausgespuckt und wie Müll weggeworfen wurde, erweist sich schnell als Retter in der Not. Er zeigt Sig, wie man in der feindlichen Außenwelt überlebt. Gemeinsam brechen die beiden schließlich auf, um zu den sagenumwobenen drei Türmen zu gelangen, die eine viele Tage dauernde Reise weit entfernt liegen. Mit einem Trick wollen sie den allmächtigen Zentralcomputer überlisten und die Stadtmenschen von den Mauern befreien, die sie umgeben
ein unglaubliches und sehr gefährliches Abenteuer beginnt.
Der hier rezensierte Roman von Marko Kunst beschreibt eine beängstigende Zukunftsvision: In einer hochtechnisierten Stadt leben die Menschen von der Außenwelt völlig abgeschnitten mit allem nur erdenklichen Komfort. Es gibt keine Gefahren, keinen Krieg, ja, überhaupt keine unangenehmen Dinge wie Armut oder Mangel - alle leben in gedankenlosem Überfluss. Eine allmächtige künstliche Intelligenz kontrolliert alles und jeden bis in sein Innerstes; unerwünschte Gedanken und Gefühle werden einfach gelöscht und somit unterdrückt. Der einzige Sinn des Daseins ist es, glücklich zu sein und am Ende wieder in den ewigen Kreislauf aufgenommen zu werden. Kritische Fragen werden nicht gestellt, weil der Zentralcomputer sie nicht zulässt. Der junge Protagonist muss bald erkennen, dass das Leben, das er in der Stadt führte, zwar glücklich und sehr bequem war, dass es jedoch ein falsches, unechtes Dasein war.
Sig beginnt zum ersten Mal in seinem jungen Leben Fragen zu stellen. Er erlebt erstmals Schmerz, Hunger, Trauer und Verlust. Und gleichzeitig erwachen in ihm Neugier, ein bisher ungekannter Kampfgeist und Wut - Wut auf den Zentralcomputer, der ihm und allen Menschen in der Stadt ihr wahres Leben vorenthält. So wie Sig sich langsam entwickelt, so wie er seine Resignation abschüttelt und beginnt, sein bisheriges Leben zu hinterfragen, so werden auch junge Leser ermutigt, Fragen zu stellen und über Selbstverständlichkeiten nachzudenken. Was macht den Menschen aus? Was ist Freiheit? Welche Mauern umgeben uns, und können wir sie durchbrechen, auch wenn dies anstrengend und vielleicht sogar gefährlich ist? Müssen wir für Bequemlichkeit und sorglose Gedankenlosigkeit einen viel zu hohen Preis bezahlen? "Gelöscht" lädt dazu ein, einen Blick über den Tellerrand zu werfen, der gerade für Jugendliche sehr wichtig ist.
Der Autor hat mit seinem Romandebüt einen spannenden, gesellschaftskritischen Science-Fiction-Thriller für Jugendliche ab etwa dreizehn Jahren geschaffen. Auch Erwachsene werden durchweg gut unterhalten. Das Buch beschreibt eine Dystopie - also eine negative Utopie - und hält sich damit vom Genre her an Bücher wie "1984" und "Brave New World", weit weniger drastisch zwar und zudem jugendgerecht, jedoch auch sehr intelligent und beunruhigend. Mit 480 Seiten ist das Hardcover-Buch ein längerer Lesespaß zum fairen Preis, der auch sprachlich zu überzeugen weiß. "Gelöscht" enthält praktischerweise im Einband eine Karte, an der die Orte des Geschehens aufgezeichnet sind. So kann man die Reise von Sig jederzeit verfolgen.
Fazit: Ein ergreifendes Plädoyer für die Freiheit des Denkens und den Willen, sein Leben selbst bestimmt zu leben - mit allen Widrigkeiten und unangenehmen Dingen. Gleichzeitig eine sehr spannende, gut erzählte Geschichte voller Fantasie, intelligenten Einfällen und abenteuerlichen Ereignissen.