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Sie gilt als "Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte" ("master of contemporary short story") - dies zwar nicht erst seit dem vergangenen Jahr, doch natürlich war 2013 für die Kanadiern Alice Munro ein ganz besonderer Erfolg: Die 1931 geborene Schriftstellerin erhielt den Nobelpreis für Literatur; sie war, ganz nebenbei, die einzige weibliche Preisträgerin im Jahr 2013. Aktuell ist von ihr "Liebes Leben" erschienen, eine Sammlung von vierzehn Kurzgeschichten, von denen die letzten vier ganz besonders persönlich, weil teilweise autobiografisch, sind. Die in dem Band versammelten Geschichten behandeln, wie der deutsche Titel es teilweise andeutet, das Leben und die Liebe - oder besser gesagt: Beziehungen, von denen jedoch nicht alle tatsächlich liebevoll zu nennen sind, und Lebensentwürfe, die nicht ablaufen wie erhofft.
Typisch für Alice Munros Erzählungen, und auch für die hier im Buch vereinten, sind der nüchterne Stil, die fehlende Sentimentalität, die man vielleicht in Geschichten über die Liebe und Lebensträume vermuten würde. Tatsächlich vereint die vierzehn Werke - oder zumindest die ersten zehn, die nicht autobiografisch sind - eher das Scheitern von Beziehungen als die Liebe selbst. Es geschehen kleine Verrate und Betrügereien, die ebenso schmerzhaft sind wie große, es gibt falsche Erwartungen, unterdrückte Gefühle, verleugnete Partner und mangelnde Zuneigung zuhauf. Die Grundstimmung ist durchaus melancholisch zu nennen; häufig folgt spät in der Erzählung eine gemeine kleine Enthüllung, die den Leser und die Handelnden gleichermaßen ernüchtert und nicht nur die gesamte Beziehung in Frage stellt, sondern den getroffenen oder erträumten Lebensentwurf selbst. Immer sind die Figuren, die Alice Munro entwirft, sehr realititätsnah und dadurch enorm menschlich.
Moral spielt häufig eine Rolle, ohne dass die Autorin direkt das Handeln ihrer Romanfiguren bewertet - eine Frau, die auf einer Zugfahrt spontan ihren Ehemann betrügt; ein Mann, der den Kontakt zu seiner krebskranken Freundin einfach abbricht und die Flucht ergreift, ohne sie noch einmal zu besuchen; ein Arzt, der einer Frau die Hochzeit verspricht und sie dann schäbig sitzen lässt. Wie im wahren Leben eben, muss man zugeben, und bedauert es doch, dass die Episoden kein Happy End besitzen, sondern in den meisten Fällen ein sehr offenes und oft genug entzaubertes Ende.
Unaufgeregt sind die Geschichten, und doch gehen sie tief, wirken noch lange nach, nachdem man das Buch schon wieder zugeklappt hat. Die Nüchternheit, mit der Alice Munro ihre Figuren betrachtet, lässt auch für den Leser eine Betrachtung aus großer Distanz zu, und dennoch kommt er den Protagonisten sehr nahe, weil die Autorin kunstvoll kleine Aspekte und Eigenheiten einfließen lässt, die für Lebendigkeit und Glaubhaftigkeit sorgen. Hat man sich einmal eingelesen in eine Geschichte, landet man in einem eigenen kleinen Mikrokosmos und glaubt am Ende, die Personen selbst zu kennen, so genau ist das Bild, das Munro von ihnen und ihrem Leben entwirft. Diese Fähigkeit, ein ganzes Leben auf teilweise lediglich 20 Seiten zu komprimieren und fühlbar zu machen, gehört zu den großen Stärken von Alice Munro.
Mit "Liebes Leben" hält der Leser vierzehn Kurzgeschichten in Händen, die einerseits einen scharfen Blick auf die Unberechenbarkeit des Lebens und seine Widrigkeiten werfen und andererseits einen entzaubernden Blick auf die Liebe und wie die Menschen mit ihr umgehen. Der zeitliche Rahmen - überwiegend die 1930er und 1940er Jahre, oft wird der Zweite Weltkrieg erwähnt, wenn auch nur am Rand - birgt einen zusätzlichen Reiz, die Handlungsorte - häufig der sehr ländlich geprägte Südosten Kanadas (Alice Munro wurde in Ontario geboren) - ebenso.
Der Fischer Verlag hält eine Leseprobe bereit: Liebes Leben