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Meist sind die Reihen unten leer, während die Zuschauertribüne gut gefüllt ist. Diese Beobachtung macht Roger Willemsen immer wieder, während er im Jahr 2013 sämtliche Sitzungen des Bundestages besucht, unabhängig von Thema und Uhrzeit, um zu erfahren, wie das Hohe Haus funktioniert: das Parlament, das die Deutschen vertritt.
Was er sieht, deckt sich nicht unbedingt mit der Vorstellung einer würdevollen Institution. Wenn die Abgeordneten überhaupt durch Anwesenheit glänzen, begleiten sie Reden je nach Couleur des Vortragenden durch Applaus und unterstützende Fragen (Parteifreunde, sofern linienkonform), Gähnen, Quatschen mit den Partei- und Koalitionsfreunden, Handyaktivitäten, Aktendurchblättern, diskreditierende Zwischenrufe und Beleidigungen, in der Regel unter der Gürtellinie – eigentlich alles, was die meisten Eltern ihrem Nachwuchs verbieten würden, wenn es um "Benehmen" geht. Nur Handgreiflichkeiten fehlen.
Manchmal, doch eher selten, ergeben sich Momente des "Menschelns". Ebenfalls selten rührt das Engagement eines Neulings das Bundestags-"Establishment" für einen Moment, ehe die Tagesordnung wieder greift.
Jeden Sitzungstag leitet Willemsen ein, indem er Schlaglichter des Tagesgeschehens erwähnt. So entsteht eine ganz eigene Geschichte des Jahres 2013: Parlament versus tagesaktuelle Realität, ergänzt durch Reaktionen auf der Zuschauertribüne und im Volk, etwa bei Willemsens Taxichauffeur, den Ordnern des Reichstags, dem Verkäufer an der Würstchenbude.
Ganz klar – ein solches Buch, das dem Volk seine Vertreter durch tägliche Beobachtung vor Augen führt, geschrieben von einem namhaften Publizisten, hat bisher auf dem Markt gefehlt. Und Willemsen lässt sich auch nicht von der jeweils aktuellen Berichterstattung beeinflussen, er erlebt die Debatten auf seine Weise, live, sozusagen von drinnen wie von draußen, und sein Bericht spiegelt den Schmerz wider ob der Banalisierung großer Probleme, die, weil von der Opposition vorgetragen, von den Entscheidern entweder schlicht weggewischt oder ins Lächerliche gezogen werden. Ein gutes Buch.
Aber es gibt auch Schwächen. Nicht nur, dass Willemsen selektiv und subjektiv vorgeht und seine persönlichen politischen Ansichten allzu sehr durchschlagen. Mit wenigen Ausnahmen heißt das: Gysi gut, CDU/CSU doof, FDP noch doofer, SPD auch nicht toll, Grüne … die sind halt bunt. So ungefähr würde es wohl in der rudimentären Zwischenrufer-Sprache des Hohen Hauses lauten.
Und wenn man wie Willemsen den Abgeordneten gern mangelnde Stringenz in ihren Reden vorwirft, sollte man selbst logisch argumentieren und nicht beispielsweise eine Politikerin lächerlich machen, die sich selbst als "letzten Redner" des Tages bezeichnet, nicht als letzte Rednerin (S. 132). Täte sie das Letztgenannte, könnte es folgerichtig nämlich noch einen männlichen Redner nach ihr geben, was sie mittels des üblichen Sprachgebrauchs korrekt ausschloss. Auch sollte man nicht NGOs mit Hilfsorganisationen gleichsetzen (S. 170). Das ist schlicht falsch. Willemsen fungiert zudem als Meinungsbildner, es zeigt sich immer wieder, dass er recht willkürlich und plakativ aus Reden zitiert, um aus der Perspektive der "political correctness" missliebige Vortragende zu brandmarken. Sollte die nicht ganz klar erkennbare Zielgruppe der mündige und kritische Bürger sein, so benötigt dieser eine solche Bevormundung nicht.
Während mir der häufig kritisierte, zumindest stellenweise schwülstige und selbstverliebte Stil Willemsens in diesem Buch weniger auffiel, waren es die sich gebetsmühlenartig wiederholenden Beschreibungen von Handlungen der Politiker, die rasch langweilig wurden, bis es geradezu "nervte", sie wieder und wieder serviert zu bekommen. Während X über Thema N redet, kramt Frau Y in ihrer Handtasche, prüft Herr Z das Display seines Handys, lacht Merkel im gelben Kostüm mit Rösler, dreht sie X den Rücken zu. Das alles kann man ein-, zweimal auswalzen, aber doch nicht für jede Sitzung, praktisch jede erwähnte Rede. Denn jeder halbwegs intelligenter Leser begreift die durchaus kritikwürdige Kommunikations"kultur" im Hohen Haus sehr rasch.
Was sich zunächst als regelrecht temperamentvolles Kino in Buchform erweist, wirkt spätestens nach der Hälfte der zu absolvierenden Seiten recht dröge.
Wie auch immer, es lohnt sich, das Buch zu lesen: so weit man eben kommt, bis das Interesse flöten geht, weil jeder Eintrag dem anderen ähnelt wie eine Sitzung der anderen; auch Abgeordnete müssen letztlich routiniert arbeiten, um ihr Pensum zu verrichten. Wer durchhält, wird durch die ein oder andere Überraschung, durch Menschliches, Bestürzendes, Begeisterndes belohnt: eine gute Rede, die bei allen, nur nicht der eigenen Fraktion, Beifall findet. Der anrührende Abschied eines langjährigen Abgeordneten. Spontane Hilfeleistungen und echte Betroffenheit durch alle Fraktionen, als eine Abgeordnete unmittelbar nach ihrer Rede einen Schlaganfall erleidet. Und eines weiß man nach der Lektüre definitiv: wie Politiker "funktionieren" und dass die eigentliche Arbeit in den Ausschüssen geleistet wird, während das Hohe Haus eher als Theaterbühne dient.
Eine
Leseprobe wird auf der Verlagsseite zum Buch angeboten.