Um den Ersten Weltkrieg zu verstehen, ist ein Blick in die Zeit vor 1914 notwendig. Es handelt sich um eine Zeit des beschleunigten Wandels mit tiefgreifenden Veränderungen für die Menschen. Es ist aber auch eine Zeit, in der sich eine "moderne Ambivalenz von Aggression und Avantgarde" entwickelte. Denn "Beschleunigung steht einerseits für Fortschritt und Zukunftsfähigkeit, sie ermöglichte andererseits die Mobilmachung und den ersten industrialisierten Krieg zu Lande, zu Wasser und in der Luft." Egal ob positiv oder negativ gewendet, das Rheinland ist geradezu prädestiniert, um diese paradoxe Zeit verständlich zu machen.

Sowohl als sich rasant entwickelnder Industriestandort, an dem natürlich auch entsprechendes Kriegsmaterial hergestellt werden konnte, als auch als geografischer Punkt mitten in Europa war das Rheinland maßgeblich involviert in diese besondere Entwicklungskonstellation vor dem Ersten Weltkrieg. So verwundert es nicht, dass vom 23. bis 25. September 2013 auf einem Kongress im LVR-LandesMuseum Bonn das Rheinland am Vorabend des Ersten Weltkrieges im Mittelpunkt stand. Mit dem hier besprochenen Band liegt nun eine Sammlung von fast allen Beiträgen dieses Kongresses vor.




Nicht nur die Zahl, sondern auch die Vielfalt der Beiträge ist beeindruckend. Denn der Band versammelt sage und schreibe 43 Aufsätze, welche zu neun Themenkategorien gruppiert werden. So gelingt ein äußerst perspektivenreicher Blick auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, welcher ökonomische, (erinnerungs-)kulturelle, soziale, mentalitätsgeschichtliche, biografische und geschichtsdidaktische Ansatzpunkte beinhaltet. Leider kann diese bloße Auflistung nur bedingt die ganze thematische Vielfalt des Bandes widerspiegeln, der geradezu vor multiperspektivischen Blickwinkeln strotzt. Dass hierbei zahlreiche gewinnbringende Erkenntnisse zu Tage gefördert werden, versteht sich zwar nicht von selbst, ist jedoch im vorliegenden Fall konsequent zu bejahen. So weisen Walter Buschmann und Stefanie van de Kerkhof beispielsweise nach, dass vor dem Ersten Weltkrieg keineswegs eine wirtschaftliche Abgrenzung stattfand, sondern dass das Rheinland in einen Prozess von transnationalen Verflechtungen integriert war. Oder ein anderes Beispiel: Der "Burgfrieden" zwischen der SPD und den anderen Parteien des Kaiserreiches zu Beginn des Ersten Weltkrieges fußt nicht auf einer plötzlich auftretenden nationalen Wallung, sondern zeichnete sich laut Stefan Berger bereits lange vor 1914 durch ein zunehmend positiveres Verhältnis der Sozialdemokraten zum eigenen Nationalstaat ab. Und das nicht nur im Deutschen Reich. Trotz der soeben festgestellten inhaltlichen Tiefe sind die Beiträge keineswegs verkopft, wozu auch die überschaubare Länge beiträgt, so dass der Band äußerst kurzweilig daherkommt.

Neben der äußerst hohen inhaltlichen Qualität überzeugt der Band auch in seiner Aufmachung, da zahlreiche Abbildungen in sehr guter Druckqualität und ausreichend großen Formaten den Aufsatzband ergänzen. Hinzu kommt, dass viele dieser Abbildungen bisher kaum beziehungsweise noch gar nicht veröffentlicht worden sind, so dass sich hier auch auf der visuellen Ebene so mancher neuer Eindruck gewinnen lässt.

FAZIT: Wo manche Verlage gerade aufhören, da fängt der Klartext Verlag gerade erst richtig an. Denn nach dem bereits äußerst empfehlenswerten Band "Der Große Krieg" steht auch diese umfangreiche Aufsatzsammlung jenem in nichts nach. Ein exzellent aufbereiteter Aufsatzband von äußerst hoher inhaltlicher Qualität. Vorbildhaft!

Weitere Informationen zum Buch sowie ein Blick ins Inhaltsverzeichnis finden sich auf der Webseite des Verlags.