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Anfang der Vierzigerjahre in Amsterdam. Ein kleiner jüdischer Junge erlebt an der Seite seiner Eltern die Verschleppung ins Konzentrationslager Bergen-Belsen. Dem Kind im Kindergartenalter, das nichts begreift, bleibt kaum ein Albtraum erspart. Denn wie sollen die hilflosen Eltern sich ihm offenbaren, die Lage erläutern, die ihnen selbst mehr als unbegreiflich ist? Sie liefern scheinbar harmlose Erklärungen, die der kleine Junge auf seine Weise interpretiert, nicht selten zum Schaden der Seinen, doch woher soll er das wissen?
Monate, Jahre vergehen, es vergeht auch Hitlers Reich, doch das unaussprechliche Grauen, das es angerichtet hat, bleibt – wie auch der Junge, in neuen, anderen Bindungen, doch mit einem schier unerträglichen "Gepäck" belastet.
Zurzeit legt Diogenes einige seinerzeit begeistert aufgenommene, mittlerweile halb vergessene Bücher auf, deren Bedeutung für die Bewältigung der jüngeren Vergangenheit nicht unterschätzt werden darf, so
"Der wiedergefundene Freund", um ein Beispiel herauszugreifen.
Anders als viele andere Autoren greift der Niederländer Jona Oberski eine sehr spezielle Perspektive heraus - seine eigene: die eines Kleinkindes, das die Welt nicht mehr versteht. Wie soll es das auch, die Erwachsenen tun es ebenso wenig, doch sie begreifen wenigstens die Abläufe, wissen, wann es still zu sein gilt und warum es tödlich sein kann, deutschen Soldaten eine lange Nase zu drehen. Für einen Jungen im Kindergartenalter gibt es viel zu beobachten und vor allem viel Unbegreifliches. Allzu absurd ist die Welt eines Konzentrationslagers für einen ganz jungen Menschen, dessen Umfeld bislang aus wenig mehr als Mama, Papa und ihm selbst bestand, der seinen Hampelmann und sein Schmusetuch liebte und brauchte und die Demütigung nicht begriff, wenn der Sohn des nahen Krämers genussvoll über seine Sandkuchen trampelte und ihn als Juden diffamierte.
Während das Kind nicht versteht, sondern nur betrachtet und seine eigenen teils diffusen Schlüsse zieht, versteht der Leser gleichwohl. Er versteht nur zu gut und begibt sich in einen Sog von Verstörung und Psychose, von physischem wie psychischem Vergehen und einem Leid, das nicht in Worte gefasst werden kann und will.
Mittendrin steht das Kind. "Schatz" nennt es die Mutter wie jede andere auch und dabei so bar jeder Perspektive. Der "Schatz" ist unter den gegebenen Umständen manchmal eine Belastung und Gefährdung und immer eine Verantwortung, der gerecht zu werden das Menschenmögliche übersteigt.
Ein subtiler, immer wieder brutal aufbrechender Schmerz wohnt diesem Roman inne, nur scheinbar gemildert durch das Nichtverstehen des kleinen Jungen, das Nichtvermittelnwollen der Eltern, die Sehnsucht, diese Zeit zu überspringen, die doch nicht ewig andauern kann. Sie kann. In der Erinnerung, den tief verankerten Gefühlen, der allmählichen Offenbarung, dem verlorenen Vertrauen zu Menschen, die dem Kind Wahrheiten vorenthalten, deshalb lügen und sich unglaubwürdig machen.
Gerade in Zeiten des Umbruchs tut solche Lektüre not, denn sie vermag auf eindringliche und unvergleichliche Weise zu schildern, wie Menschen andere Menschen gleichgültig vernichten - oder aber zu ihren Gunsten über sich hinaus wachsen. Das kann kein Sachbuch, keine Statistik.
Eine Leseprobe bietet die Verlagsseite.