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Thomas, der Sohn eines Gastwirtes, hat sein ganzes vierzehnjähriges Leben im Dorf Walberswick in Suffolk verbracht. In letzter Zeit sind vermehrt Sommergäste in dem Küstenort aufgetaucht, und Thomas' Eltern hoffen, von dieser Entwicklung profitieren zu können, da sie sich bislang mehr schlecht als recht durchgeschlagen haben. Doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus, und die Urlauber verlassen Hals über Kopf die Küste - es könnte ja eine Invasion erfolgen.
Zwei bleiben allen Widrigkeiten zum Trotz, sogar über den Winter: Charles Rennie Mackintosh und seine Frau Margaret aus Glasgow. "Mac", wie er genannt wird, macht sich den Dorfbewohnern verdächtig, unter anderem weil er zu den außergewöhnlichsten Zeiten mit einem Fernglas an abgelegenen Orten unterwegs ist. Arbeitet er etwa als Spion? Thomas, der sich mit dem Ehepaar etwas angefreundet hat, fragt sich selbst, ob es sich bei Mac wohl um einen Verräter handelt, und zugleich wünscht er sich, den Fremden schützen zu können.
Leicht hat Thomas es nie gehabt: Seinem trunksüchtigen und gewalttätigen Vater droht immer die Insolvenz, weil dessen Wirtshaus nicht recht "läuft", Thomas muss dort mit anpacken, wird auf Drängen seiner Mutter trotz der finanziellen Not zur Schule geschickt, wo er zum Verdruss des Lehrers Schiffe auf die Papierränder zeichnet. Und nebenbei gilt es, etwas Geld beim Seiler des Dorfes zu erarbeiten.
Als das Ehepaar Mackintosh im Dorf auftaucht, ändert sich Thomas' Leben grundlegend, denn diese beiden faszinieren ihn. "Mr Mac" ist gekleidet wie Sherlock Holmes, Pfeife inklusive, und sucht die Gegend ständig mit einem Fernglas ab. Um seltene Blumen zu entdecken, wie Thomas herausfindet, denn Mac arbeitet als Maler und - derzeit nicht sehr erfolgreich - als Architekt. Auch Margaret Mackintosh malt. Die Mackintoshs fördern Thomas' künstlerisches Talent und helfen mit Papier und Farben aus. Zu seiner Freude bleiben sie auch, als der Krieg ausbricht und das Leben im Dorf zunehmend beeinflusst. Doch gerade dieses Bleiben macht sie verdächtig, zumal allein schon der Gebrauch des Fernglases mittlerweile eigentlich verboten und ein Indiz für Feindkontakte ist.
Es gelingt Esther Freud, aus der vor allem anfangs sehr naiven Perspektive des einfachen Dorfjungen Thomas heraus eine wunderbar stimmungsvolle Geschichte zu spinnen, in der die Härte des Alltags mit dem Losgelöstsein durch die Kunst und der Nähe zu seinen sonderbaren Freunden und Förderern - dem Ehepaar Macintosh - kontrastiert. Immer tiefer wird Thomas und mit ihm der Leser sowohl in den Alptraum des Weltkriegs als auch in die persönliche Geschichte der Mackintoshs hineingezogen. Sensibel erzählt die Autorin vom Reifen des Jungen, der Dinge erlebt, die einem Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen erspart bleiben sollten und die doch nicht untypisch sind für jene Zeit.
Andererseits zeichnet Esther Freud ein spannendes Porträt des vielseitigen schottischen Künstlers Charles Rennie Mackintosh (1868 - 1928), dessen bedeutendstes Werk wohl die Glasgow School of Art ist und der, nach einer kurzen Hochphase verkannt, vergessen und in bitterer Armut verstorben, zu den Begründern des Jugendstils (Art Nouveau) zählt. Der Blick des Jungen auf den exzentrischen Künstler und seine patente Frau Margaret ergibt ein eigenwilliges Bild von Mackintosh und reizt den Leser dazu, sich ausgiebiger mit "Mac" zu befassen. In der Danksagung befinden sich Hinweise auf entsprechende Literatur.
Mackintoshs Leben eignet sich vorzüglich als Stoff für einen Roman. Dass die Autorin sich auf ein Jahr, das erste Kriegsjahr, bezieht und die (zunächst) unvoreingenommene Perspektive eines Kindes wählt, gibt ihr die Möglichkeit, ein außergewöhnliches Porträt von "Mac" zu zeichnen: persönlich, liebevoll und doch aus einer immer vorhandenen Distanz heraus - auf Augenhöhe mit dem Schicksal eines unbedeutend erscheinenden Dorfjungen.
Eine fesselnde Lektüre mit einer Mischung aus Spannung und Poesie auf der Basis eines wahren Schicksals.
Eine Leseprobe bietet die Verlagsseite.