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Beim Hofgang dürfen die Gefangenen nicht miteinander reden. Auch die "Justizler", wie der junge Mann die Justizwachebeamten nennt, fallen nicht gerade durch Gesprächigkeit auf. Allenfalls möchte ein Mitgefangener grob Zigaretten von dem Burschen, der für sich selbst überraschend in Untersuchungshaft gelandet ist. Und sein Opa, bislang sein Förderer und Idol, will ihn nicht mehr kennen. Die Welt ist aus den Fugen.
Nach und nach entspinnt sich die Geschichte eines Mordes, mehr aber jene eines Gespinstes aus Missbrauch und Abhängigkeiten, Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung, aus Schuld und Hörigkeit und sehr vielen menschlichen Abgründen. Die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwimmen bis zur Unkenntlichkeit.
Im Herbst 2013 wurde ein 19-Jähriger aus Oberösterreich, der seine Großmutter mittels Beil und Messer bestialisch ermordet hatte, zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Wesentlich höher fiel die Strafe für den Großvater aus: 18 Jahre, obwohl er mit einem hieb- und stichfesten (unbeabsichtigtes Wortspiel) Alibi aufwarten konnte; im Prozess war mehr und mehr zutage getreten, dass der Enkel vom verehrten Großvater angestiftet, ja, regelrecht im Rahmen einer Hirnwäsche instrumentalisiert worden war.
Diesen realen Fall (Google-Suche: "Oma-Mord Österreich") greift Evelyn Grill in ihrem Roman auf. Sie erzählt einige Wochen der Untersuchungshaft aus der Perspektive des Enkels nach - wie sie sich ihr erschließt. Hierbei hat sie offensichtlich gut recherchiert, denn das Buch fügt sich sauber in die vorhandene Quellenlage ein.
Anfangs wissen weder der Leser noch der junge Protagonist so recht, was damals geschah. Beide befassen sich mit der Kindheit des Burschen, dessen Vaters nicht wirklich bekannt ist, der seiner Mutter von den dominanten Großeltern als kleines Kind regelrecht abgenommen und von ihnen adoptiert wurde. Er spielt gut Klavier und Orgel und gilt im übersichtlichen Städtchen, wo der Großvater (Haupt-) Schuldirektor und damit einer der Honoratioren ist, als kleiner Mozart, scheinbar hingebungsvoll von diesem gefördert. Dass er mit achtzehn, neunzehn freilich noch nicht als Jungstudent an einer Akademie zugange ist, offensichtlich nicht einmal außerhalb des Wohnortes auftrat, relativiert diese Ansage deutlich. Überhaupt erscheint bei näherem Hinschauen vieles relativ, und genau diese Entwicklung beabsichtigt die Autorin vermutlich: das Wechselspiel zwischen der hochgradig narzisstischen Persönlichkeit des Großvaters und dem von ihm völlig abhängigen, isolierten, daher auch sozial zurückgebliebenen Enkel, der, mit Zuckerbrot und Peitsche erzogen, nur mühsam rekonstruieren kann, warum er es war, der seine Großmutter getötet hat. Die er eigentlich mochte. Deren Aggressionen gegen den Großvater er, wäre er nicht so völlig in dessen Sog geraten, wohl hätte verstehen und teilen können.
Im Großen und Ganzen wird der ominöse und verstörende Fall auf diese Weise ein Stück weit nachvollziehbar. Es entsteht der Eindruck einer höchst destruktiven, provinziellen "Ménage à trois", die wohl auch Sartre inspiriert hätte.
Trotzdem lässt sich der Eindruck nicht von der Hand weisen, dass der Fall ein Stück weit "benutzt" wurde – mithin auch die ganz realen Menschen, die sich im Buch wiederfinden, nicht zuletzt die Eltern des Jungen, die gar nicht gut wegkommen; ein Eindruck, der, verfolgt der Leser parallel die mediale Berichterstattung, nicht unbedingt stimmig ist. Gewissermaßen wird der Roman auf dem Rücken von Menschen ausgetragen, die selbst noch mit dem Trauma kämpfen, das da offensichtlich auf Betreiben eines höchst manipulativen, egozentrischen Narzissten ausgelöst wurde.
Und letzten Endes wirkt das Buch auch etwas künstlich aufgebläht. Der junge Delinquent bleibt doch vage und blass, er will einfach ein Klavier und versteht so gut wie nichts von dem, was um ihn herum geschieht. Ein bisschen wenig für 147 Seiten in ziemlich großer Schrift für zwanzig Euro. Dass die psychische und soziale Entwicklung des Burschen verzögert ist – geschenkt. Das zeigt sich von selbst. Aber wenngleich sich Menschen, die in Bezug auf Zeitgenossen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung vorbelastet sind, das Drama rasch erschließt, bleibt es für alle anderen nun eben vage. Der Opa sagt, die Oma muss weg. Warum antwortet der Enkel nicht: "Das sagst du"? Und genau der Moment, in dem die Selbstbestimmung gänzlich verloren geht, das Ausmaß und der Auslöser der emotionalen Erpressbarkeit, wird dem Gefühl nach nicht richtig erfasst.
So bleibt es eher beim Versuch, authentisch zu wirken, mancher Leser wird mit der durch den Roman erneut durch die Mangel gedrehten Familie leiden, und preiswert ist das Buch auch nicht.
Eine Leseprobe wird auf der Verlagsseite angeboten.