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Marc Aurels Selbstbetrachtungen gehören zu den wenigen Beispielen philosophischer Texte politischer Machthaber. Bis heute wird das stoische Werk viel gelesen, nicht nur wegen seines philosophischen Inhaltes, sondern vielleicht vor allem wegen seiner lebenspraktischen, fast therapeutischen Ausrichtung. Der Recam-Verlag hat dieses Jahr eine neue kommentierte Ausgabe mit Nachworten von Gernot Krapinger und Helmut Schmidt heraus gebracht.
Das gut 270-seitige gebundene Buch bietet neben dem knapp 200-seitigen Text noch einen größeren Anmerkungsapparat, in dem viele Hintergründe erläutert werden, sowie eine Art Glossar zu erwähnten Personen und Gottheiten, einen Stammbaum Marc Aurels, ein wissenschaftliches Nachwort und ein mehr essayistisches Geleitwort von Hemut Schmidt. Abgerundet wird alles durch ein Literaturverzeichnis.
Marc Aurels Text selbst ist eine Schatzkammer stoischen Denkens, aber eben auch ein Beispiel für selbsttherapeutisches Schreiben. Der Römische Kaiser schrieb über mehrere Jahre immer wieder an dem Buch. Dabei ging es ihm nicht darum, einen Text für die Öffentlichkeit zu schreiben, sondern der Prozess des Schreibens sollte ihn selbst ermahnen, sein Leben positiv zu gestalten. Das hieß für ihn, ganz in stoischer Tradition, Gelassenheit und Pflichterfüllung zu vereinen. Sich selbst stets daran zu erinnern, sollte ihm helfen, eine innere Einstellung einzunehmen und aufrecht zu halten, die ihm vernünftiges und gerechtes Handeln und Entscheiden ermöglichte.
Dies war wahrscheinlich nicht immer erfolgreich in der Praxis, deshalb ist der Text unzusammenhängend und redundant. Marc Aurel schrieb immer wieder daran, um eine stoische Haltung einzunehmen, was eben einer lebenslangen Anstrengung bedarf. Genau das macht den Text anziehend, nicht nur für Philosophen, sondern auch für Menschen, die nach lebenspraktischen Anleitungen suchen. Sie finden hier viele Anregungen dazu, wie sie sich selbst und anderen gegenübertreten sollten, um kühlen Kopf und auch Motivation zu bewahren.
Der wissenschaftliche Begleitteil ist von großer Hilfe für alle Menschen, die sich akademisch mit dem Text befassen wollen. Gernot Krapinger hat neben dem Verfassen der Neuübersetzung einen breiten Schatz an Hintergrundwissen zusammengetragen und in den Anmerkungen zu den einzelnen Abschnitten und in seinem Nachwort zusammengefasst. So erfährt der Leser eine Menge über Leben und Zeit Marc Aurels, über dessen politische Laufbahn und die Probleme des Römischen Reichs im zweiten Jahrhundert.
Interessant ist anfangs auch das Geleitwort von Helmut Schmidt, der Marc Aurels Selbstbetrachtungen schätzte und ihnen nach eigener Aussage Zeit seines Lebens nacheiferte. Schmidt weist auf einige interessante Aspekte hin, etwa dass der Leser Marc Aurel nicht idealisieren dürfe aufgrund seiner Schrift. Die historische Realität zeigt, dass er oft genug seinem eigenen Ideal nicht entsprach wie viele historische Figuren vor und nach ihm. Auch schön ist der Hinweis, dass die Selbstbetrachtungen gerade deshalb so anziehend sind, weil sie kein Publikum suchen, sondern der Schreibende die Worte als Ermahnung an sich selbst richtet, es sich also um das Gegenteil einer gewollten Selbststilisierung handelt. Schmidts Text wäre eine großartige Begleitung, wenn er nach solchen Bemerkungen enden würde. Aber Schmidt macht das Gegenteil dessen. Die letzten drei bis vier Seiten handeln nur noch davon, wie gut er selbst Marc Aurels Ratschläge befolgt habe. In den schwierigen Momenten seiner Kanzlerschaft, ob Geiselnahmen oder NATO-Doppelbeschluss, habe er immer kühlen Kopf bewahrt und so seine Pflicht erfüllt, in jeder Situation das anscheinend einzig Richtige zu tun. Mehr unsympathische Selbststilisierung auf drei Seiten geht gar nicht. Zumindest beim Verfassen dieses Schlusses hat er also anscheinend die Selbstbetrachtungen aus den Augen verloren. Ein gutes Beispiel dafür, das eine stoische Lebensführung eben ein lebenslanges Ringen mit sich selbst ist, mit ungewissem Ausgang ...
Insgesamt ist diese Neuausgabe wegen ihrer vielen Hintergrundinformationen ihr Geld wert. Marc Aurels Selbstbetrachtungen gehören zu diesen Texten, die jeder immer mal wieder in seinem Leben lesen sollte, um sich seine Haltung zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen immer wieder neu zu vergegenwärtigen. Auf Helmut Schmidts Selbstinszenierung hätte allerdings gut verzichtet werden können.
Eine Leseprobe findet sich auf der
Verlagswebsite.