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Synästhesie, das ist - aus Platz- und Kompetenzgründen sehr vereinfacht ausgedrückt - eine Art erweiterter Wahrnehmung. Geräusche und Gerüche werden nicht nur jeweils für sich wahrgenommen, sondern sind mit optischen Farbeindrücken gekoppelt, die vor dem "inneren Auge", also auch bei geschlossenen Lidern, stattfinden. Ein Beispiel aus "Norgast":
"Schräg rechts von ihm waren auf einmal diese Formen zu sehen, die wie versetzt übereinander gestapelte Schubladen aussahen. Sie verblassten und wurden durch einen rotgolden schimmernden, schräg waagerecht verlaufenden, rotweißgoldenen Zapfen ersetzt: Eine Blaumeise. Erst hatte sie auf den Regen geschimpft und dann mit einem Träller ihr Lied angestimmt."Eckhard Freuwört ist Synästhetiker, ebenso wie seine Hauptfigur Findus. Dieser erwacht bei einem Fischerpaar in der Wildnis des Königreichs Norgast - einer Welt der runenbasierten Magie, die zu nutzen synästhetische Wahrnehmung voraussetzt - und kann sich nicht an seine Vergangenheit erinnern. Das Paar nimmt ihn auf, aber als sich herausstellt, dass er zum einen über magisches Potenzial verfügt und zum anderen vom gefährlichsten Mann des Reiches, dem gewissenlosen Herrscher und Magier Baldur, und dessen brutalen Häschern gesucht wird, bringt ihn der Fischer zu der Bônday, einer mächtigen Hexe, auf der namenlosen Insel in der gefahrenreichen Tiedsiepe. Dort, an diesem machtvollen magischen Ort, werden Findus' Zauberkräfte wieder geweckt, gefördert und bei den Zwergen in der Nebelsenke perfektioniert. Die Bônday erlegt ihm drei Prüfungen auf, die seine Ausbildung abschließen sollen.
Baldurs Suche geht derweil weiter. Findus kann ihm und seiner Machtposition gefährlich werden, und deshalb hatte er bereits einmal versucht, jenen zu töten. Hierzu hatte er einen Pakt mit einem mächtigen Dämon geschlossen. Jedoch misslang der Mordversuch, und nun steht der Herrscher unter Druck, denn der Dämon wartet ungeduldig auf Findus' - oder aber Baldurs - Seele. Bald aber hat Baldur eine Spur, die ihn zu dem Fischerpaar führen wird. Findus bekommt das mit und geht mit Hilfe der Hexe Dayla auf Konfrontationskurs. Doch als sie aufeinander treffen, stellt sich Unerwartetes heraus ...
Freuwört hat sich bereits in zwei Sachbüchern mit der Synästhesie befasst. "Norgast" stellt nun eine praktische Anwendung der darin erarbeiteten Erkenntnisse dar. Dies bezieht sich besonders auf die verwendete Runenkunde, die im Anhang erläutert wird, und auf die vorgestellte Art der Hexenmagie - der Autor hat sich an okkulten Praktiken orientiert, mit denen sich heutzutage zum Beispiel so genannte Neo-Hexen beschäftigen. Und natürlich hat die Synästhesie einen besonderen Stellenwert. Freuwört bringt dem Leser all das nahe, was natürlich am besten in einer Fantasywelt funktioniert, in der die Magie aktiv ist. So kann man sagen, dass es sich um ein sehr informatives Buch handelt. Findus' synästhetische Wahrnehmung ist beeindruckend dargestellt, man gewinnt als Nicht-Synästhetiker einen guten Eindruck davon.
Darüber hinaus wird eine Geschichte vom Kampf Gut gegen Böse erzählt, von magischem Ungleichgewicht und sozialer Ungerechtigkeit. Allerdings, "erzählt" ist leider nicht zutreffend. Es wird vielmehr beschrieben, Situationen werden auf eine Weise dargestellt, die man am ehesten als flüchtig bezeichnen kann, sei es eine gefahrvolle Reise, seien es Kämpfe oder auch von Verlust und Trauer geprägte Situationen. Das alles wird nahezu hastig abgehandelt, als hätte der Autor Zeit- und Platznot, so dass letzten Endes festzustellen ist, dass er wohl eine Aussage vermitteln will und ihm der Weg, dies zu tun, zweitrangig ist. Es kommt kaum Spannung auf, nur in manchen Szenen wirkliche Atmosphäre - vorrangig dann, wenn dem Leser der Blick direkt durch Findus' Augen gewährt wird, und wenn der Ritt auf Einhörnern mal eben innerhalb weniger Zeilen erwähnt wird, fragt man sich doch, ob nicht wenigstens Fischer Bewok als einer der Reiter sich mal überschlagen würde vor Verwunderung - beschrieben wird das nicht. Überhaupt bekommt man selten Gefühle präsentiert, auch hält sich der Autor nur sehr selten damit auf, Figuren abseits der Geschichte miteinander interagieren, etwa scherzen zu lassen - alles ist funktional, Dialoge wie Verhalten, und wirkt oft wenig lebendig. Hinzu kommen Dinge, über die man verwundert stolpert. Um nur ein Beispiel zu nennen:
"Bingo", dachte Findus. Ein derart irdisches Wort in einer Fantasywelt zu gebrauchen erscheint wenig stimmig, auch wenn Findus eine Zeit in einer Anderswelt verbracht hat, die unserer Realität entspricht.
Freuwörts Hauptfiguren stellen nahezu Archetypen der Schwarzweißmalerei dar. Baldur ist Soziopath auf ganzer Linie, ihm sind alle niederen Menschen - für ihn als Herrscher also so gut wie alle Bewohner Norgasts - gleichgültig, sie sind nur dazu da, ihm zu dienen, ein ganzes Reich voller potenzieller Bauernopfer, die diktatorisch klein gehalten werden. Macht ist dazu da, um sie auszunutzen zu seinem eigenen Vorteil, gleichgültig, wer wie lange darunter zu leiden hat.
Ihm gegenüber steht Hauptfigur Findus als strahlender Held und messianischer Robin Hood, der gut und rein ist und bereit zur Selbstaufopferung, der keine - benannten - Makel besitzt, dem alles so gelingt, wie er es plant, dem der Zufall immer dann zur Hilfe kommt, wenn es gerade vonnöten ist, und der so lange unselbstständiges Werkzeug anderer ist, bis er letztlich seine Erlöserfunktion wahrnehmen muss - er handelt bis auf wenige Male immer nur danach, was andere ihm auftragen. Keine Zweifel, kein eigener Wille, er fügt sich in sein Schicksal. So sind auch die Charaktere rein funktional, da vermisst man oft eine menschliche Seite.
Der Autor will auf etwas hinaus: Er will für Natur sensibilisieren, erlebte Synästhesie vermitteln und aufrütteln, denn seine Geschichte ist zugleich auch Sozialkritik, die mit Extremen arbeitet. Viele Elemente der Welt Norgast, vor allem die negativen, sind deutschen Gesellschaftszuständen nachempfunden - für die Kaufleutegilde etwa hat er sich das deutsche Gesundheitssystem und für ihren Einfluss auf Herrscher Baldur den großer deutscher Wirtschaftskonzerne auf die politischen Entscheidungen der deutschen Regierung zum Vorbild genommen. In der Geschichte wird aus einer kapitalistischen Diktatur ein Wohlfahrtsstaat, der irgendwie an Kommunismus erinnert. Freuwört will die Leserschaft aus der blinden Gleichgültigkeit holen, ihr die Augen öffnen für die Ausbeutung, die uns widerfährt.
Das Buch bietet neben der Geschichte und dem Anhang zur Runenkunde noch eine vorangestellte Vorstellung der wichtigsten Norgast-spezifischen Begriffe und ein "Making of", in dem der Autor für jedes der elf Kapitel beschreibt, wie es zustande kam. Hier stellt sich heraus, dass seine Geschichte aus vielen kleinen Inspirations-Puzzleteilen zusammengesetzt ist, die er zumeist aus Liedtexten von zahllosen Gruppen - zum Beispiel Schandmaul, Nightwish, Reinhard Mey - gezogen hat. Dieser Teil ist vor allem interessant, um seine Arbeitsweise kennen zu lernen; darüber hinaus erläutert er hier seine sozialkritischen Ansätze.
"Norgast" ist ein esoterischer Fantasy-Roman mit Seitenhieben auf deutsche Gesellschaftszustände und sehr informativen Beschreibungen von Runenmagie, Hexen-Okkultismus und Synästhetik. Leider gelingt es dem Autor nicht, all dies in einer spannenden Erzählung unterzubringen, vielmehr beschreibt er Situationsabläufe und spult potenziell spannende Begebenheiten lieblos ab, so dass man sich an die zuvor genannten Elemente klammern muss, um dem Buch letztlich etwas Gutes abzugewinnen. Information und Sozialkritik sind sinnvoll und löblich, aber man kann sie auch attraktiver verpacken.