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"Ich sah alle 90 Sekunden auf die Uhr. Die Rückreise nach dem Interview war eine Tortur. Eineinhalb Stunde würde ich noch warten müssen - auf den nächsten Schuss. Drogensucht macht die Zeit zum Feind. Doch wenn es etwas gab, das ich noch mehr fürchtete als die Entzugsqualen, dann war es, meinen Job zu verlieren. Mein bürgerliches Leben als erfolgreicher und angesehener Journalist."
Jörg Böckem, Jahrgang 1966, führte mehr als zwanzig Jahre ein Doppelleben als Journalist und Junkie. Schon früh wurde der Rheinländer heroinabhängig und arbeitete trotzdem als Redakteur bei renommierten Medien wie "Der Spiegel" und "Die Zeit". In seiner Biografie "Lass mich die Nacht überleben" beschreibt Böckem, wie er in einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt behütet aufwächst, dort dennoch vierzehnjährig mit weichen Drogen in Kontakt kommt und mit achtzehn Jahren dann dem Heroin verfällt.
Mit neunzehn bringt ihn seine Heroinsucht zum ersten Mal ins Gefängnis, mit 33 versucht der Journalist seine Freundin unter Drogeneinfluss zu erwürgen. Dazwischen lebt er im Spannungsfeld von Verzückung und Verzweiflung: ein Leben in Haft, und mit Hepatitis, Partys und Porno-Dreh, Karriere und Koma, Abstinenz und Absturz, ein Leben, in dem er immer wieder versucht durch Selbstentgiftung oder Therapien von der Abhängigkeit loszukommen. Mittlerweile ist er seit mehreren Jahren clean.
Böckem erzählt offen über seine Probleme und Gefühle, ohne dabei auf die Tränendrüse zu drücken: "Ich hatte kein Gefühl mehr dafür, wer ich war und was ich mir jenseits des nächsten Drucks vom Leben erhoffte. Mir war, als sei ich schon immer ein Junkie gewesen, mein einziger Lebensinhalt die Droge. Alles andere musste ich mir mühsam zurück erobern. In den letzten Jahren war mir Verweigerung zum Selbstzweck geworden. Nur langsam begann ich herauszufinden, was ich wollte und konnte."
Der Journalist beweist mit seiner persönlichen Schilderung sehr viel Mut. Wie viele andere Süchtige, die beruflich Erfolg haben und weiter funktionieren, hat Böckem ein Doppelleben geführt, das aus Versagensangst, Scham, Selbsthass und der ständigen Gier nach Drogen bestand. Das Buch schildert eindringlich und in einfacher Sprache die Erlebnisse des Autors und lässt den Leser in dieses fremde Leben eintauchen. Dadurch schafft es Verständnis und zeigt, dass ein Junkie nach Außen "normal" funktionieren kann und nicht immer verlottert und mit Spritze im Arm auf einer Bahnhofstoilette herumlungert.
Auch Betroffenen bietet Böckems Biografie Hoffnung. Trotz Zweifeln und Versagensängsten beginnt der Journalist im Jahr 2001 eine dritte Therapie in Gütersloh, die ihn bis jetzt sein Leben ohne Drogen führen lässt. In diesem letzten Kapitel findet sich der einzige Kritikpunkt an diesem Buch. Es ist recht kurz gehalten und lässt viele Fragen zu aktuellen Therapieformen, der persönlichen Wandlung des Autors, dessen ersten Schritte nach seiner Entlassung und den Umgang mit Freunden, Verwandten und Arbeitskollegen offen. Schade, denn gerade diese Schilderungen könnten anderen Süchtigen bei ihrer Entscheidung zu einer Therapie helfen.
Jörg Böckem ist aber insgesamt zu seiner couragierten Autobiografie zu beglückwünschen. Sein Buch hat eine lebensbejahende Aussage für Betroffene und zeigt, wie schnell jemand in eine solche Abhängigkeit - besonders als Jugendlicher - geraten kann. Der Autor schließt mit den Worten: "Ich werde mein Leben so schnell nicht wieder aufs Spiel setzen." Viele andere Drogensüchtige haben die Nacht nicht überlebt.