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Lemuel Gulliver hält es nicht in seiner Heimat England. Doch seine Seereisen stehen unter keinem guten Stern. Das Schiff kentert in einem gewaltigen Sturm und alle Besatzungsmitglieder mit Ausnahme Gullivers ertrinken. Er rettet sich ans Ufer und fällt in tiefen Schlaf. Erwachend muss er feststellen, dass er gefesselt wurde und sich nicht bewegen kann. Zu seinem Erstaunen umringen ihn Menschen, die kaum eine Handspanne groß sind. Es dauert mehrere Wochen, ja Monate, bis die höfische Gesellschaft und ihr König ihm seine Freiheit wieder geben. Nachdem er aber eine Flotte des Feindes der Liliputaner aus deren Hafen entwendet und sie nach Liliput bringt, steht er in höchstem Ansehen. Doch Palastintrigen und ein durch seinen Urin gelöschter Brand des Königspalastes lassen ihn in Ungnade fallen und um sein Leben fürchten.
Lemuel Gulliver gelingt die Flucht, er kehrt nach Hause zurück. Wenige Monate nach seiner Ankunft in seiner Heimat verlässt er wiederum seine Frau und seine Kinder, um in der Ferne sein Glück zu suchen. Diesmal aber lassen ihn seine Kameraden auf einer Insel zurück, auf der sie Trinkwasser nehmen wollten. Riesenhafte Menschen, kirchturmgroß, nehmen ihn als eine Art Haustier mit in ihre Stadt. Hier erlebt Gulliver eine Menge teils sehr gefährlicher Abenteuer, ehe ihm ein Adler unverhofft zur Flucht verhilft.
Wieder hält es Lemuel Gulliver nicht lange bei seiner Familie in England aus. Er sticht als Wundarzt in See und reist in sein drittes Abenteuer. Piraten nehmen ihn und die Mannschaft gefangen und ein besonders boshafter Holländer erreicht, dass man ihn aussetzt. Zu Gullivers Erstaunen schwebt Tage später eine Insel durch die Luft heran und senkt sich so weit über Gulliver ab, dass er an einer Kette auf das seltsame fliegende Land gelangen kann. Die Bewohner von Laputa sind sehr absonderlich. Sie sind zwar ähnlich groß wie Gulliver, aber sie tragen den Kopf zu einer Seite geneigt und sind nur in der Lage sich länger zu unterhalten, wenn sie von Bediensteten sanft auf Ohren und Mund geschlagen werden. Ohne diese "Klatscher" genannten Vasallen widmen sie sich unentwegt Problemen der Musik oder der Mathematik. Gulliver halten sie für dumm und ungebildet; und auch nachdem er die Landessprache gelernt hat, kann er diesem Hofstaat nichts abgewinnen. Zu seinem Glück erhält Gulliver die Erlaubnis, nach Lagado, der Hauptstadt des Reiches, hinabsteigen zu dürfen. Der König und seine Minister verlassen ihren schwebenden Regierungssitz nicht und sie sind froh, nicht länger die Gesellschaft dieses ungehobelten, unwissenden Gastes erdulden zu müssen.
Doch die Hauptstadt, etwas halb so groß wie das London des Jahres 1705, macht einen völlig verwahrlosten, armen Eindruck. Auch außerhalb der Stadt wird kein Land bestellt, keine Landwirtschaft betrieben. Überall wird der Boden aufgerissen und hektisch aufgebaut und eingerissen. Gulliver kann sich diesen Zustand nicht erklären, machen die Bewohner doch nicht den Eindruck besonders dumm zu sein. Gulliver verlässt diese Insel schnell und reist weiter. Einige Stationen später ist er froh, nach Japan überzusetzen und endlich ein Schiff nach England zu besteigen, wo er neun Monate später glücklich mit seiner Familie zusammentrifft.
Doch ein Angebot als Kapitän eine weitere Reise zu unternehmen, kann er nicht ausschlagen. Nach einigen krankheitsbedingten Todesfällen ersetzt er Teile der Mannschaft durch Einheimische. Diese meutern und setzen ihn auf einer unbekannten Insel aus, die zu Gullivers Entsetzen von intelligenten Pferden besiedelt ist. Nach drei Jahren unter ihnen ist sich Gulliver nicht sicher, ob er je wieder in "seine" Welt zurück möchte. Doch das Schicksal hat andere Pläne mit ihm.
Das mehr als 270 Jahre alte Werk von Jonathan Swift erfreut sich immer noch einer großen Beliebtheit. Weniger die schriftliche Ausführung als die unterschiedlichsten Versionen akustischer Umsetzungen sind auf dem Markt erhältlich. Zumeist auf zwei, seltener drei CDs findet der Zuhörer meist Gefallen an einer oder zwei Reisen Lemuel Gullivers. Die Insel der winzigen Liliputaner und das Reich der turmhohen Riesen sind vielen daher geläufig. Sehr selten werden die dritte und vierte Reise thematisiert. Das liegt zum einen an der richtungsweisenden Umsetzung Erich Kästners. Er verwendete die ersten zwei Reisen Gullivers und fasste den Text nach modernen und dramaturgischen Gesichtspunkten für Jugendliche und Erwachsene zusammen. Dies führte zu annehmbarer Qualität dieser Dichtung und zumeist in der Folge zu spannenden und abwechslungsreichen Hörbüchern.
Der Verlag "TechniSat Digital" wagte im April 2006, sämtliche Reisen Gullivers in der Originalfassung von Jonathan Swift auf sage und schreibe neun CDs und elf Stunden Dauer einzuspielen. Marit Beyer wurde als Sprecherin mit dieser wahren Marathon-Aufgabe betraut. Sie macht ihre Sache zwar gut, aber schnell wird deutlich, warum sämtliche anderen Ausgaben sich in der Sprache und der Länge nicht auf Jonathan Swifts Vorlage direkt beziehen. Die Abenteuer geraten zu einer äußerst langweiligen Angelegenheit. Endlose weitschweifige Erklärungen, sinnlose Randbemerkungen, immer wiederkehrende sprachliche Grausamkeiten entnerven den Zuhörer. Die Sprache Swifts mag 1730 aktuell gewesen sein, heute wirkt sie umständlich, gestelzt und teils gar widernatürlich. Die Reisen Eins und Zwei ziehen sich endlos in die Länge und es gehört viel Durchhaltevermögen dazu, sie durchzustehen.
Doch plötzlich reibt man sich erstaunt die Augen (oder besser die Ohren): Das eher unbekannte Abenteuer in Laputa und Lagado ist von völlig anderer Qualität. Mit spitzer Feder, Sarkasmus und einer einmaligen Bosheit spießt Swift seine Mitmenschen, die englische Regierung, das politische und gesellschaftliche System seiner Heimat derart gekonnt auf, dass einem Hören und Sehen vergeht. Er lässt eine Rede nach der anderen vom Stapel, unverkennbar zielend auf die damaligen Verhältnisse. Mit unglaublicher Weitsicht geißelt er Entwicklungen, die bis in die heutige Zeit andauern. Swift erweist sich unversehens als echter Misanthrop, als bösartiger Menschenfeind.
Die "Erfindungen", die er die verrückten Wissenschaftler Lagados machen lässt, sind reine Ironie und schlicht die pervertierte Wirklichkeit des damaligen Englands. Swift brandmarkt bereits 1730 die Zukunftsgläubigkeit, ja Hörigkeit der Regierenden und ihrer Untertanen.
Diese Reise erweist sich - auch in der Sprache Swifts - als ein beeindruckendes Dokument eines Satirikers auf der Höhe seiner Fähigkeiten. Aus diesen Zeilen gründet sich die Kritik seiner Zeitgenossen und der Ruf seines Werkes als Gesellschaftskritik und Abrechnung mit der politischen Klasse Englands.
Dann aber beginnt die vierte Reise. Hier verlässt Swift die Satire, die er so meisterhaft beherrscht. Seine aus den ersten drei Reisen erwiesen brillanten ironischen Betrachtungen weichen einer abgrundtiefen Bosheit. Mit Häme und beißendem Spott, menschenverachtender Diskreditierung allen Humanistischen als Verlogenheit und Falschheit, verletzender Abkanzlung und Aburteilung ganzer Berufsgruppen, ja der gesamten Menschheit.
Es ist keine Satire mehr, wenn Swift allen Rechtsanwälten, Richtern und Staatsanwälten Betrug, üble Gesinnung, Bestechlichkeit, Faulheit und Böswilligkeit zubilligt. Ebenso verfährt er mit Ärzten, Adligen gleich welchen Standes, allen Ministern, aber auch Bauern und jeder Person weiblichen Geschlechts.
Seine Aufzählungen sind nicht mehr verdeckt oder einer anderen Person zugeschrieben, was ihm in der Person Gullivers eine vermeintliche Gegenrede erlaubte, sondern direkt von seinem lyrischen Ich Gulliver. Jonathan Swift erweist sich als Menschenverachter und -feind. Er bietet eine solche Fülle an Beleidigungen und Hetze auf, dass es verwunderlich scheint, dass dieses Buch - zumindest aber diese vierte Reise - je den Weg zu einem Verlagshaus und einem Buchladen finden konnte.
Fazit: elf Stunden Swift. Muss das sein? Leider nein, denn die erste Hälfte ist aus einer Vielzahl an Gründen höchst langweilig, die zweite Hälfte kippt von einer köstlichen Satire und spannenden Beschreibung "aktueller" Zustände in eine bösartige Abrechung mit Swifts Mitmenschen. Interessant sind diese elf Stunden, zumal für den sensationell günstigen Preis von nicht mal neun Euro, in einer Hinsicht dennoch: Sie sind ein unglaublich fantasievoller Bericht eines Misanthropen. Swift schrieb einen Weltbestseller - nicht weil dieses Buch so beeindruckend, so virtuos, so einmalig fantastisch wahr und ist, sondern weil es ihm gelang, eine - zweifellos vorhandene - Seite des Menschen herauszuarbeiten. Höchst einseitig und subjektiv und höchst desillusionierend wie destruktiv. Manche der ihm vorgeworfenen bösartigsten Verleumdungen sind leider keine. Sie sind im Kern nur zu wahr und halten dem modernen Menschen und seiner Vergnügungssucht, seiner Selbstverliebtheit und seinem Egoismus einen Spiegel vor, der zwar über 270 Jahre alt ist, aber immer noch kristallklar und strahlend erscheint.