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Der zwölfjährige Tyler betrachtet eines Abends zusammen mit den dreizehnjährigen Zwillingen Diane und Jason den Sternenhimmel - als Unfassbares geschieht. Von einer Sekunde auf die andere verschwinden alle Sterne, als wären sie ausgepustet worden. Das Ereignis ist ebenso beunruhigend wie rätselhaft, doch schnell wird zumindest eins klar: Die Menschheit ist nicht dem Tod geweiht, zumindest nicht unmittelbar, denn am nächsten Morgen geht trotz allem die Sonne auf. Eine Sonne allerdings, die viel zu regelmäßig scheint, so dass bald klar wird, dass ihr Licht und dessen Intensität von außen gesteuert werden. Es stellt sich schließlich heraus, dass die Sterne und der Mond nicht verschwunden, sondern lediglich abgeschirmt sind durch einen gigantischen Energieschirm, eine Barriere, die die Erde umhüllt und sie gleichermaßen vom Universum isoliert. Doch wer könnte die Macht haben, einen solchen Energieschirm zu errichten, und vor allem mit welchem Ziel? Dann bringen Nachforschungen und Experimente noch schockierendere Erkenntnisse zu Tage: Die Erde ist nicht nur räumlich abgeschirmt, ihre düstere Hülle trennt sie auch zeitlich vom Rest des Universums. Während auf der Erde ein einziges Jahr vergeht, sind "draußen" schwindelerregende 100 Millionen Jahre vorüber gezogen. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis bei diesem rasanten Ablauf der Dinge die Sonne ihre begrenzte Existenz in einer Supernova beendet und die Erde dem Untergang geweiht ist. Die letzte Generation der Menschheit blickt ihrem Ende entgegen; doch es gibt einige, die sich den "Spin" - so wurde das Ereignis offiziell getauft - zu Nutze machen und sich dagegen auflehnen wollen
In seinem vierten Science-Fiction-Roman lässt der Autor Robert Charles Wilson es trotz dieses gigantischen Einstiegs relativ ruhig angehen. Er beleuchtet zunächst die unterschiedlichen Lebensläufe von Tyler Dupree und dem Geschwisterpaar Diane und Jason Lawton, die sich im Zuge der unsicheren Spin-Zeit sehr unterschiedlich entwickeln. Während Tyler Medizin studiert und Arzt wird, wendet sich Diane voller Angst der Sekte "New Kingdom" zu, die wie viele andere religiöse Vereinigungen in der aufkeimenden Endzeitstimmung massenhaft Anhänger um sich schart. Jason hingegen tritt in die Fußstapfen seines allmächtigen Vaters, wird Wissenschaftler und widmet sich voll und ganz dem Spin. Hier schlägt der Roman eine höchst interessante Wendung ein und bringt das Thema des Terraformings auf den Plan. Wenn "draußen" die Zeit in rasender Geschwindigkeit verstreicht, während auf der Erde nur wenige Sekunden, Minuten und Stunden vergehen, dann kann man sich dies zunutze machen, indem man die Evolution vorantreibt. Das Konzept, den Mars zu besiedeln, scheint plötzlich keine so abwegige Idee zu sein, und es dauert nicht lange, da starten auch schon die ersten Trägerraketen, um den Roten Planeten zu begrünen und für Menschen bewohnbar zu machen. Die Geschehnisse des Romans werden aus Tylers Sicht aus dem Jahr 4 x 10
9 nach Christus - Spinzeit selbstredend - rückblickend erzählt, so dass der Roman auf zwei Erzählebenen spielt. In der Gegenwart ist Tyler auf der Flucht und hat sich eine marsianische Substanz injizieren lassen, die heftige Nebenwirkungen hervorruft. Warum - dies soll hier nicht verraten werden, es bleibt jedenfalls bis zum Ende spannend. In Tylers Rückblicken in die Vergangenheit (und damit in unser "Jetzt") erzählt er, wie es so weit kommen konnte.
"Spin" ist ein großartiger Science-Fiction-Roman mit phantastischen Ideen, die jedoch vom Autor nicht phantastisch, sondern weitestgehend realistisch aufbereitet wurden. Wilson widmet sich allen Feldern des täglichen Lebens, auf die ein umwälzendes Ereignis wie der hier beschriebene Spin Einfluss haben würde: Politik und Weltwirtschaft, Religion, Wissenschaft und Forschung. Nicht zuletzt würde ein solches Ereignis ein komplettes Neuverständnis der Menschheit von ihrer Position im Universum bedeuten, wenn klar würde, dass die Erde nicht die einzigen intelligenten Lebewesen im Kosmos beherbergt.
Science-Fiction-Fans dürfen hier eine Fülle an interessanten Einfällen und gedanklichen Konstrukten erwarten, wobei der Roman aber nicht zu technisiert ist, so dass auch Leser, die sich bisher nicht an das Genre herangetraut haben, ohne Weiteres einen Blick riskieren können. Was man jedoch nicht erwarten sollte, sind Action, nervenzerreißende Spannung oder gar kriegerische Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen kosmischen Lebensformen. Die Geschichte geht einen eher klassischen Weg, beschreibt über weite Strecken die Beziehungen von Tyler, Jason und Diane und driftet somit oft eher in eine Art Familiengeschichte ab. Unbestritten wirkt der Roman dadurch streckenweise langatmig, wenn nicht gar ein wenig langweilig. Die hoch gegriffenen und durchaus realistischen Zukunftsvisionen einer Generation von Menschen, die durch ein unfassbares Ereignis ihrem Ende entgegen blicken, sind es jedoch allemal wert, sich diesem Buch zu widmen. Ein atemberaubendes und gleichzeitig klassisch-sachliches "Was-wäre-wenn?" - Wilson hat hier den richtigen Weg für zeitgemäße Science-Fiction gefunden und wurde von zahlreichen Kritikern dafür mit der Bewertung "Bester Science-Fiction-Roman des Jahres" gelobt.