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Neun aktuelle Theaterstücke in einem Buch von 570 Seiten, das ist ein schon recht weiter Blick auf das, was momentan im Theater wichtig ist. Die Serie "Theater Theater" geht damit schon in die sechzehnte Runde und ist ein gutes Theaterarchiv geworden.
"Boulevard Sevastopol" von Igor Bauersima und Réjane DesvignesEin Haus voller illegaler Einwanderer, Liebe im Internet, das sind die Themen des ersten Stückes. Die Hausbewohner lieben und hassen, vor allem hoffen sie aber und erinnern sich an die Zeiten früher, zu Hause.
Dieser Boulevard ist eine Collage, eine Milieuzeichnung und kann zusätzlich dadurch punkten, dass ständig mit den Perspektiven gespielt wird, ständig erzählen die Figuren ihre Aktionen, oder auch die von anderen, wechseln immer wieder in die dritte Person über. Das ist durchaus interessant, allerdings nichts, was längerfristig aktuell bleiben wird.
"Kaltes Land" von Reto FingerEin Bergdorf im Berner Oberland, eine Familie, die ihren Sohn verloren hat, die Tochter, die der Vater mit "Bub" anspricht, will weg, kehrt immer wieder zum Bahnhof zurück. Sie soll dem Pfarrer helfen, will das aber nicht. Ein junger Mann aus der Stadt gerät in das Geschehen ...
Ein dunkles Stück voller Geheimnisse, es passiert etwas arg wenig, aber auch hier wird ein - ganz anderes - Milieu gezeigt, Schicksale, Menschen, die sich und ihre Umwelt belügen. Schlichter, aber auch viel zeitloser als das erste Stück.
"Der Entenfreund" von Gerhard MeisterDie Titelfigur, um die sich alles dreht, kommt in diesem Stück überhaupt nicht vor. Ein Mann verlässt seinen Arbeitsplatz, um im Park Enten zu füttern. Über eine solche Impertinenz regen sich nun alle auf. Der Chef, der ihn natürlich rauswirft, die Ehefrau, die diese Schande nicht ertragen kann und mal eben mit dem Chef in die Kiste springt. Die Nachfolgerin, der Jugendfreund, eine Frau aus der Firma, sie alle haben etwas über den Entenfreund zu sagen.
Aus einer kleinen netten Idee wurde ein ebensolches Stück. Das ist humorvoll und eben nett, aber leider nicht mehr.
"Wunderbare Welt Dissozia" von Anthony NeilsonEndlich ein Stück mit Schauwert und Fantasie: Lisa ist eine junge Frau, die nicht so ganz bei sich ist. Ein schweizerischer Uhrenvertreter eröffnet ihr, dass sie eine Stunde verloren habe und sich deswegen so seltsam fühle. Aber wenn sie nach Dissozia fahren würde, könne sie diese Stunde zurückholen, und daraufhin dringt sie tiefer in ihre Psyche ein und reist nach Dissozia, in einem Fahrstuhl natürlich. Dort begegnet sie unwahrscheinlichen Gestalten, einem sprechenden Ziegenbock, der wohl eigentlich ein Sündenbock ist, und sämtliche Schuld für sich einfordert, oder einer Frau, die in ganz Dissozia das einzige Verbrechensopfer ist und einen engen Zeitplan hat - "Wie auch immer, wir sollten jetzt fahren! Ich soll nämlich um sechs samt Auto entführt werden!".
Die verschiedensten Formen geistiger Krankheiten sind auch im Film immer wieder gern gesehen - von "Rain Man" bis "Fight Club" -, und auch hier ein Thema. Allerdings geht es hier in ein fantastisches Reich, in Gebiete, die einer reichen Fantasie entspringen und in der sich das Theater austoben darf. Das Zeug zum Klassiker fehlt vielleicht, aber hier passiert endlich was, kann das Theater seine Stärken entwickeln und ausspielen. Ein schönes Stück.
"Verletzte Jugend / Die Verstörung" von Falk RichterEin Mann und eine Frau besuchen einen jüngeren Mann. Der hat offenbar mit beiden mal was gehabt und ist inzwischen verlottert. Man schreit sich an, küsst sich, macht auch noch eine ganze Menge weitere seltsame Sachen.
Dann kommt "Die Verstörung" und es geht mit einer Menge Figurengruppen weiter, die ebenfalls ihre Probleme wälzen, sich streiten, verletzen und zum allergrößten Teil ziemlich unverständlich reagieren. Und das alles am Heiligen Abend - an dem auch eine Probe für "Verletzte Jugend" stattfindet.
Zwei Stücke in einem, die sich auch noch gegenseitig unterbrechen, durchmischen. Und dann auch noch 120 Seiten. Ein ewiger Textwurm. Da berauscht sich der Autor an seinen kunstvollen Verknüpfungen und den vielen Aktualitäten und vergisst darüber, dass Aktualität morgen Schnee von gestern ist, und dass auch dieses Stück bei Drucklegung schon Schnee von gestern ist. Ein negatives Stück, ein quälendes Stück und mit Sicherheit kein gutes Stück.
"draußen tobt die dunkelziffer" von Kathrin RögglaEin Sprachexperiment, Geschichten zu jedem politischen Thema, mehr politisches Kabarett als Theater, völlig sprachorientiert. Eine Inhaltsangabe lässt sich nicht wirklich machen, es gibt kaum feste Figuren, zu Überschriften gibt es teilweise clevere, teilweise einfach nur polemische Beiträge. Insgesamt ein Sprachgewitter, leider auch noch alles in Kleinschreibung - gegenüber denen, die mit diesem Text arbeiten müssen ist das eine Unverschämtheit, egal welche künstlerische Intension dahinter steht. Auch hier eher eine Art wütendes politisches Kabarett, nur eben nicht witzig - sondern selbstverliebtes Aktivistentheater.
"Auf der Greifswalder Straße" von Roland SchimmelpfennigAn der titelgebenden Straße tauchen ein Mann auf, der seinen Hund sucht, ein Mann, der von ehemaligen Geliebten im Traum gewarnt wird, eine Frau, die nicht versteht, wieso niemand bei ihr kassieren lassen will - eigentlich ist es nicht besonders verwunderlich, sie ist tot.
Wieder eine Ortscollage, wieder eine Menge zwischenmenschlicher Probleme, aber hier gibt es eine Menge Humor, und das ist schon mal ein Vorteil. Allerdings gibt es auch hier viele Szenen, die nur auf Sprache setzen, mehr wie ein Hörspiel das Ganze.
"Der Kick" von Gesine Schmidt und Andres VeielEs beginnt mit einer Vernehmung, und dann kommen immer mehr Erzählungen und Aussagen dazu, offenbar Ausschnitte aus Interviews. Die Geschichte von dem Mord an Marinus wird erzählt, ein authentischer Fall, bei dem Jugendliche besoffen einen Kumpel folterten und ermordeten. Die Täter treten auf, ihre Eltern, seine Eltern, Freunde und Bekannte von entweder dem einen oder den anderen.
Die Texte sind stark und berührend, die Authentizität zieht beim Lesen ins Stück hinein. Da braucht es auch gar nicht mehr viel, um daraus ein Theaterereignis zu machen - andererseits ist natürlich auch hier ein Hörspielgefühl gegeben, in diesem Bereich kann das Stück vielleicht am stärksten punkten.
"Chatroom" von Enda WalshSechs Jugendliche treffen sich in verschiedenen Chatrooms, unterhalten sich über die klassischen Probleme des Erwachsenwerdens, intrigieren gegeneinander, suchen sich ein Opfer - Jim - und wollen ihn in den Selbstmord treiben. Andere wollen genau das verhindern.
Chatrooms auf die Bühne zu bringen ist eine Mode der Theaterbranche, immer wieder werden Texte aus dem Bereich von Foren und Chats in verschiedene Zusammenhänge gebracht und im Theater verarbeitet. Hier sind die Chatgespräche absolut fiktiv und haben sich von der Chatsprache auch getrennt - also gibt es keine "lol"- oder "ka"-Abkürzungen. Der Chat wird zum Metaraum und in diesem wird eine spannende Geschichte erzählt. Sehr schönes Stück.
Das Buch hat als Sammlung von aktuellen Theaterstücken seinen Zweck ausgezeichnet erfüllt, neun Stücke, die nicht nur das moderne Theater wiederspiegeln, sondern auch etwas für jeden Geschmack bieten. Speziell "Wunderbare Welt Dissozia", "Der Kick" und "Chatroom" sind absolut spannende Geschichten, die man sich auch gut auf der Bühne vorstellen kann. Andere Stücke, und es sind immer die Stücke aus dem deutschsprachigen Theater, bleiben in ihrem Elfenbeinturm des Subventionstheaters und sind unglaublich weit weg vom Publikum. Trotzdem ist ihr Vorhandensein natürlich richtig, schließlich gehören sie zur Theaterlandschaft. Insgesamt fehlt dem Drama momentan ein bisschen das Drama, es passiert ziemlich wenig, die Dramatiker sehen sich oft zu sehr als Dichter.
Eine empfehlenswerte Sammlung und bei ihrem Umfang von neun Stücken bei einem Preis von knapp 15 Euro sehr günstig.