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Samson Greene, Professor für Englisch an der Columbia University, verlässt eines Tages das Universitätsgebäude und verschwindet. Als er Wochen später zufällig desorientiert und dehydriert in der Wüste von Nevada gefunden wird, erinnert er sich nicht, wie er dorthin gekommen ist. Greenes Erinnerungen sind fast komplett verschwunden - er erinnert sich an die Jahre bis zu seinem zwölften Lebensjahr zurück, danach ist sein Gehirn eine große Leere, ähnlich der Wüste, in der er gefunden wurde. Bei Untersuchungen stellt sich heraus, dass Greene einen Gehirntumor hat. Er wird operiert, aber seine Erinnerungen kehren nicht zurück.
Zurück in New York findet er sich wieder in einer Welt, die ihm nichts sagt. Freunde und Bekannte erkennt er nicht wieder, an historisch bedeutsame Ereignisse der letzten Jahre kann er sich nicht erinnern, seine Frau Anna ist ihm völlig fremd. Zwar wagen die beiden Annäherungsversuche, aber es funktioniert nicht, denn Anna gibt Samson das vage Gefühl, Schuld an diesem Zustand zu sein, der nun ihr Leben zerstört, und Samson liebt Anna, die unbekannte Frau, nicht mehr. Samson Greenes Leben indes kommt ihm selbst nicht zerstört vor. Er weigert sich, sein altes Leben, das ihm hier angeboten wird wie ein altes Kleidungsstück, in das er nur hineinschlüpfen müsste, anzunehmen. Es erscheint ihm unattraktiv, er sehnt sich nicht nach den verlorenen Erinnerungen, spürt keinen Verlust der letzten 24 Jahre.
Eines Tages erhält Greene einen Anruf von einem Professor namens Ray Malcolm, der ihn zu einem Flug nach Kalifornien überredet. Malcolm ist ehemaliger Neurochirurg und Wissenschaftler. Er arbeitet an einem großen medizinischen Experiment, in dessen Rahmen er Greenes Gehirn fremde Erinnerungen einsetzen möchte
Greene, ohnehin ohne Verpflichtungen, ohne Vergangenheit und ohne bewusst gelebte Biografie, lässt sich darauf ein und tritt eine abenteuerliche Reise an, ohne sich dessen bewusst zu sein, welchen Schritt er eingeht.
In ihrem Debütroman "Kommt ein Mann ins Zimmer" widmet sich Nicole Krauss dem Thema des Vergessens, des Erinnerns und des Menschseins an sich. Sie wirft dabei existenzielle und ethische Fragen auf und beleuchtet das, was Samson Greene zustößt, von zwei Seiten - als Verlust und als Gewinn. Einerseits: Was sind wir noch ohne Erinnerungen? Ist ein Mensch, der sich an nichts erinnert, der sich keiner Vorlieben, Abneigungen, Erfahrungen bewusst ist, überhaupt ein Individuum? Greene philosophiert in diesem Hörbuch treffend darüber, dass er mit seinem beschädigten Gehirn ebenso gut oder schlecht sei, wie ein Klon seiner selbst - denn ohne Erinnerungen und Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen können, sind wir nichts. Auf der anderen Seite ist der Verlust des Gedächtnisses aber auch Chance und Aufbruch zugleich. Die rätselhafte Auslöschung fast alles Erlebten macht aus dem Englischdozenten eine tabula rasa mit gesteigerter Wahrnehmung seiner Umwelt. Greene sehnt sich nicht zurück nach seinem alten Leben, in dem er mit seiner Frau Bett, Wohnung, Freundeskreis und den Hund teilte. Empathie ist ihm mangels eigener Erfahrungen fremd, und trotz gut gemeinter Bemühungen kann er Annas Verlust nicht aufwiegen, will es auch gar nicht. Dennoch benimmt sich Greene keinesfalls wie ein Autist, wie ein geistig Behinderter, wie ein Klotz. Er ist hochintelligent und feinsinnig, eine sympathische Romanfigur.
"Kommt ein Mann ins Zimmer" ist ein interessantes Gedankenspiel, auf das man sich allerdings einlassen muss. Ohne grundlegendes Interesse an Greenes Geschichte und dem Thema als solchem muss die Geschichte fast zäh und langatmig erscheinen. Über zwei Stunden passiert bei dieser ungekürzten Lesung aus dem Argon Verlag nichts oder fast nichts, erst am Ende der zweiten CD erhält Greene den Anruf von Malcolm. Dennoch kann man sich der Geschichte nur schwer entziehen. Das liegt vor allem auch an Sprecher Ulrich Noethen, der sich in Deutschland zunächst einen Namen als talentierter Schauspieler machte und der immer häufiger als hochkarätiger Sprecher von Hörproduktionen in Erscheinung tritt. Noethen liest Krauss Geschichte unprätentiös und leicht distanziert. Sein Sprechrhythmus ist zwar nicht lebhaft, aber gleichwohl attraktiv; der Leser fühlt sich rasch eingelullt von dieser gleichförmigen, unspektakulären, aber nie langweiligen Lesung.
"Kommt ein Mann ins Zimmer" ist ein sensibles, teils skurriles gedankliches Experiment, das geprägt ist durch kunstvolle, teils fast poetisch anmutende Sprache. Wie Nicole Krauss großer Erfolg
"Die Geschichte der Liebe" handelt auch diese Geschichte vom Vergessen eines alten und Aufnehmen eines neuen Lebens, aber auf völlig andere Art und Weise. Wer einfühlsame Geschichten mit leisem Humor schätzt und sich auch bei langen, ruhigen Schilderungen nicht schnell langweilt, dem sei diese gelungene Lesung ans Herz gelegt.