Gesamt |
|
Anspruch | |
Aufmachung | |
Humor | |
Preis - Leistungs - Verhältnis | |
Menschen, die gegen Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufgewachsen sind, können zumeist mit Lyrik nichts anfangen. Wenn einer aus dieser Generation, der 1968 geborene Germanist Steffen Jacobs, Werke zehn namhafter deutscher Lyriker des 20. Jahrhunderts auf ihren Wert für den heutigen Leser prüft, verdient dies zumindest Aufmerksamkeit.
Bei den Dichtern handelt es sich um Wilhelm Busch, Stefan George, Rainer Maria Rilke, Josef Weinheber, Gottfried Benn, Peter Rühmkorf, Hans Magnus Enzensberger, Harald Hartung, Robert Gernhardt und Durs Grünbein. In dieser Reihenfolge repräsentieren sie die Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, denn der Lyrikband jedes Poeten, den Jacobs vorrangig bespricht, ist im entsprechenden Jahrzehnt erschienen - so 1904 Wilhelm Buschs "Zu guter Letzt", das zwar durchaus den von den Bildergeschichten her gewohnten Buschschen Witz enthält, zugleich aber einen abgeklärten Rückblick auf ein im Großen und Ganzen zufrieden stellend verlaufenes Leben.
Zehn Jahre später erschien Stefan Georges "Der Stern des Bundes", 1922 verfasste Rilke die 55 "Sonette an Orpheus" innerhalb eines Monats. Auf ihn folgt im Lyrik-TÜV Josef Weinheber - nie gehört? -, eine Dichterfigur mit nicht gerade blütenreiner Weste in Sachen politischer Gesinnung, mehr und länger dem Nationalsozialismus verhaftet als Gottfried Benn.
Die fünf "jüngeren" Poeten dürften den meisten Lesern zumindest namentlich vertraut sein, Gernhardt freilich eher als Co-Autor mehrerer Otto-Shows und Drehbuchautor von Otto-Filmen. Ob er als Lyriker durch den TÜV kommt? Zumindest lohnt es sich zu verfolgen, wie Steffen Jacobs Gernhardts "Körper in Cafés" unter die Haube guckt.
Wer als selbsternannter Prüfer des Lyrik-TÜVs auftritt, muss natürlich bestens Bescheid wissen, welche Bauteile für ein Gedicht wesentlich und notwendig sind und wie sie angeordnet und beschaffen sein sollten, damit das Werk "läuft". Jacobs? Kompetenz geht nicht nur aus seiner Kurzbiografie hervor - so etwas hat nicht immer viel zu bedeuten -, sondern vor allem aus seinen Ausführungen zum Werk "seiner" Lyriker, die zwar mitunter etwas unverblümt selbstgerecht daherkommen, jedoch, zumindest was ihre Basis belangt, logisch aufgebaut, faktenorientiert und auf gründlicher Recherche beruhend konzipiert sind. Trocken und altklug geht es in diesem Buch freilich nicht zu: Der lebendige Stil, reichlich Ironie und Wortwitz sowie auch die eine oder andere Parodie, zum Beispiel auf Georges "Ich bin der Eine und bin Beide", sorgen für unterhaltsame Lektüre.
Das völlige Fehlen weiblicher Präsenz unter den zehn für je eine Dekade stehenden Dichtern mag man Jacobs ankreiden oder auch nicht, je nach Geschmack und Sichtweise. Wundern darf man sich darüber. Ansonsten wurde die Auswahl durchaus interessant getroffen.
Der Autor zeichnet die Lebensgeschichten der zehn Dichter nach und untersucht auf mehr oder weniger psychoanalytischem Weg Einflüsse von Kindheit und Jugend auf das jeweilige Lyrikwerk - manchmal wohl unter etwas mühsamem Gezerre und, ähnlich Freud, mit einem fast schon voyeuristischen Schwerpunkt auf sexuellen Aspekten. Die Schlüsse, zu denen er gelangt, kann man, ob man dieser Art der Argumentation nun folgen will oder nicht, überwiegend gut nachvollziehen. Busch wird in der allgemeinen Rezeption sicherlich unterschätzt, George litt unter massiver, vermutlich mit Schizophrenie gepaarter Selbstüberschätzung. Ob Rilke ein am Fließband onanierender und schreibender Dichter war, wie aus dem Lyrik-TÜV hervorgeht? Muss man den politisch doch stark gebräunten Josef Weinheber wirklich kennen? Dass Gernhardt nach Anerkennung abseits von "Otto" lechzte, dürfte stimmen und vieles andere ebenso.
Glücklicherweise geht der Autor häufig auch auf handwerkliche Aspekte ein, die bei einem Lyrik-TÜV doch eigentlich vorrangig sein sollten, und hier kann der Leser dann wirklich vorbehaltlos lernen, sofern er nicht ohnehin vom Fach ist.
Wie alle Bände der "Anderen Bibliothek" ist auch dieser sehr hochwertig und ansprechend aufgemacht, weshalb der nicht gerade geringe Preis gerechtfertigt erscheint.
Wer sich für Lyrik und ihren künftigen Stellenwert in der Literatur interessiert und sich vom bisweilen kühnen Erspüren von Zusammenhängen zwischen Kindheit und Werk manches Dichters nicht schrecken lässt, findet im "Lyrik-TÜV" viel Wissenswertes. Trotzdem werden kritische Leser nach der Lektüre zu dem Schluss kommen, dass sie wohl weiterhin selbst am besten entscheiden, wessen Lyrik sie genießen wollen oder können und wessen nicht.