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 Ein Geburtstag


Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


Das Zimmer ist das reinste Chaos. Bis morgen muss noch eine ganze Menge aufgeräumt werden. Denn morgen hat der Junge Geburtstag und sein Zwillingsbruder wird kommen. Dafür legt er eine Matratze neben sein Bett, legt den Lieblingsschlafanzug seines Bruders darauf, legt die Lieblingskassette in den Rekorder, bereitet das Album mit den alten Bildern vor.
Alle Geheimnisse, die der Junge hat, erzählt er seinem Bruder. Auch wenn der nicht da ist. Doch der Bruder kann die Torte nicht essen, die Kerzen nicht ausblasen, das Geburtstagslied nicht mitsingen, nicht zum Geburtstagstisch laufen, nicht Fahrrad fahren.
Doch der Bruder wird sich freuen und mit ihm lachen. Auch wenn er selbst manchmal traurig dabei ist. Und er wird sich, wie schon tausende Male zuvor fragen: "Warum er und nicht ich?"

Diese Geschichte verstört, irritiert, macht unsicher. Was sind das für seltsame Vorbereitungen? Was ist mit dem Bruder des Jungen? Warum kann er das alles nicht? Wieso ist der Bruder nicht da, kommt nur zum gemeinsamen Geburtstag?
Ganz langsam, wie in Zeitlupe, zögerlich, gegen einen inneren Widerstand, beginnt erst der vorlesende Erwachsene - ihm sind die subtilen Hinweise geläufiger - zu ahnen, worauf die Geschichte hinausläuft. Beim ersten Vorlesen, beim ersten Betrachten der Bilder werden die meisten Kinder - mit Sicherheit die unter sieben Jahren - erst mit dem letzten Bild verstehen, warum der Bruder "das alles" nicht kann. Was mit ihm los ist, worin er sich unterscheidet - vielleicht aber noch nicht mal das, denn das Bild ist nur sehr dezent an der Auflösung dieses Rätsels beteiligt. Die meiste Arbeit muss der Vorleser leisten, muss entschlüsseln, erklären, zeigen, hinweisen. Muss die Feinheiten des Bildes aufdecken. Muss auf die Hände des Zwillingsbruders, seine Augenstellung, seine Fußhaltung, die Schnabeltasse deuten.
Erst das zweite Vorlesen ermöglicht es dem Kind, von vorneherein zu verstehen, was den Bruder umtreibt, warum er traurig ist, wenn sein Bruder lacht.

Die Schwerbehinderung ist selten Thema eines Kinderbuchs, eines Bilderbuchs. Sie wird eher ausgeklammert, verschwiegen, ist zu traurig, ekelhaft sogar?
Dieses Tabu bricht die Autorin Doris Meißner-Johannknecht mit Verve, Schwung, einfachen Sätzen und cleverem Spiel mit der Wirklichkeit. Unterstützt wird sie von einer fantastischen Illustratorin. Die Bilder von Melanie Kemmler sind anmutig, poetisch, glasklar, reinste Fantasie, spielen mit Realität und Traum, verraten nichts, sagen alles. Mit einem einzigen, einfachen, schlichten Schlussbild deutet sie darauf hin, was dem Zwillingsbruder in die Wiege gelegt wurde. Welches Schicksal ihn getroffen hat und den Bruder nicht.
Die Bilder sind ideale Ergänzung des Textes, führen ihn in ein Land der Fantasie, fangen die Kinderseelen ein, lassen beim Betrachten Träumen und Verstehen zu.

Dieses Kinderbuch ist schlicht einmalig. Für kaum fünfzehn Euro erhält man einen Einblick in die Seele eines Menschen, dessen Zwillingsbruder schwerbehindert ist. Was viele hundert Seiten Romanhandlung nicht auf den Punkt bringen können, vermögen diese wenigen Sätze und diese herrlichen Bilder. Sie brechen mit einem Tabu, beleben es und verorten es dort, wo es hingehört - mitten im Leben, mitten im Alltag eines jeden Haushalts, eines jeden Kinderzimmers. Gegen Ausgrenzung und Verschweigen, gegen Stille und Sprachlosigkeit hilft dieses kleine, wunderschöne Kinderbuch - es sollte in keinem Bücherregal fehlen.

Stefan Erlemann



Hardcover | Erschienen: 01. August 2007 | ISBN: 9783907588895 | Preis: 14,90 Euro | 32 Seiten | Sprache: Deutsch

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