Anne Shirley hat es in ihren bisherigen elf Lebensjahren nicht leicht gehabt: Ihre Eltern sind kurz nach ihrer Geburt gestorben. Seitdem wird sie von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht, wo sie als billige Arbeitskraft ausgenutzt wird. Liebevolle Bande hat sie nie erlebt, auch nicht im Waisenhaus, in das sie zuletzt abgeschoben wurde. Als größte Tragödie ihres Lebens empfindet sie jedoch nicht etwa diese Lebensumstände, sondern ihr karottenrotes Haar, das sie abgrundtief verabscheut. All das scheint jedoch zunächst vergessen, als Anne erfährt, dass sie von einem älteren Geschwisterpaar aufgenommen werden soll.
Anne schöpft neue Hoffnung und verliebt sich augenblicklich in Green Gables, die wunderschöne Farm der Cuthberts, auf der sie zukünftig leben soll.
Dann jedoch muss sie erfahren, dass es offensichtlich zu einer tragischen Verwechslung gekommen ist. Die Cuthberts wollten einen Jungen aus dem Waisenhaus aufnehmen, der ihnen bei der Farmarbeit zur Hand gehen kann. Annes Welt zerfällt in Trümmer - und während die Wogen der Verzweiflung über sie hereinbrechen, merkt sie zunächst nicht, wie ihr außergewöhnlicher Charakter beginnt, die Cuthberts zu verzaubern …

Rechtzeitig zum hundertjährigen Jubiläum des beliebten Kinderbuchklassikers präsentiert der Titania Medien Verlag "Anne auf Green Gables" als vierteilige Hörspielserie. Dabei ist das Team mit spürbar viel Liebe ans Werk gegangen: Stimmige Musik untermalt die Handlung, passende Hintergrundgeräusche werden eingesetzt und als Sprecher hat man Profis verpflichtet. Niemand geringeres als die Synchronstimmen von Kirsten Dunst (als Anne) und Whoopie Goldberg (als Mrs Lynde) glänzen in ihren Rollen. Dagmar von Kurmin, ein alter Hase im Hörspielgeschäft, spricht einfühlsam Marilla Cuthbert.
Trotz aller Erfahrung hat jedoch vor allem Marie Bierstedt - die Sprecherin der Anne - einen schweren Stand. Denn Lucy Maud Montgomerys Bestsellererfolg ist nicht nur in seiner literarischen Form unsterblich geworden, sondern hat auch als TV-Adaption in den 80er Jahren weltweite Erfolge gefeiert. Mit ihr hat sich Schauspielerin Megan Follows als impulsiver, energischer Rotschopf in die Herzen der Anne-Liebhaber gespielt.
Bierstedt kommt da wesentlich sanfter und verträumter daher - eine legitime Interpretation, aber eben eine, an die man sich erst gewöhnen muss.

Ist dies geschehen, wird man von der sehr humorvollen Handlung hinweg getragen nach Green Gables, jener kleinen Bilderbuchfarm auf Prince Edwards Island vor der kanadischen Küste, für die es wohl keine treffendere Bezeichnung gibt als "verträumt". Man möchte fast wie Anne glauben, dass dies tatsächlich das wundervollste Fleckchen auf Gottes weiter Erde ist.

Interessierte Hörer seien jedoch gewarnt. So bezaubernd die Geschichte um die Waise Anne auch ist, sie ist sicher nicht jedermanns Geschmack. Die Handlung ist sehr idyllisch: "Anne auf Green Gables" handelt von den Kinderjahren eines quicklebendigen jungen Mädchens, dass für das Kanada des späten 19. Jahrhunderts überraschend viel Temperament hat. Das Hörspiel ist somit alles andere als action-orientiert und, das sei fairerweise zugegeben, trotz aller Schicksalsschläge Annes so voller "Heile Welt"-Flair, dass es dem einen oder anderen zu viel werden könnte.

Die erste Folge der Anne-Reihe überzeugt eindrucksvoll. Es ist leider selten, dass man sich mit einer Hörspielreihe so viel Mühe gibt. Da ist es beruhigend, dass Titania Medien im zwar recht knappen, aber ansprechenden Booklet ankündigt, dass auch die Romane "Anne in Avonlea" und "Anne in Kingsport" im Lauf des nächsten Jahres adaptiert werden sollen.